15. August 1769 – ein Geburtstag an der Peripherie Europas

Bald feiert sie den 250. Geburtstag ihres größten Sohnes: Korsika, die »Insel der Schönheit« und Heimatland von Napoleon Bonaparte. Günter Müchler wirft einen Blick auf die Kinderjahre Napoleons, über die wenig bekannt ist, sowie seine familiären Hintergründe. Weshalb musste die Familie nach Frankreich flüchten? Und wie wurde aus dem korsischen Patriot ein französischer Revolutionär?

In den Tourismus-Katalogen nimmt Korsika einen Stammplatz ein. In den Rubriken des Aktuellen kommt es dagegen nur aus Anlass von Waldbränden vor oder dann, wenn Autonomisten mal wieder eine Bombe zünden, um auf sich aufmerksam zu machen. Im August wird sich das ändern. Dann wird die „Insel der Schönheit“ in aller Munde sein, denn sie feiert den 250. Geburtstag Napoleons, ihres größten Sohnes. Dabei war die Beziehung Napoleons zu seinem Heimatland kompliziert und konfliktreich.

In der Geschichte lag Korsika stets an der Peripherie. Selbst in der Zeit, als das Mittelmeer noch den Mittelpunkt der Welt markierte, spielte es keine eigenständige Rolle. Es war immer nur Beutestück Stärkerer, die die Insel aufgrund ihrer strategischen Lage begehrten. Nacheinander machten sich Karthager, Römer, Vandalen, Byzantiner und Sarazenen auf Korsika breit, später dann gehörte es Pisa und Genua.

Erst im 18. Jahrhundert machte die Insel von sich reden. Eine Aufstandsbewegung unter Pasquale Paoli versuchte, die Fremdherrschaft Genuas abzuschütteln. Der Freiheitskampf beeindruckte die Philosophen der Aufklärung, die etwas leichtsinnig Korsika zum Traumland erkoren. Rousseau, der das raue Bergeiland, in dem sich archaisch alles um den Familienclan drehte und wo die Vendetta die sozialen Beziehungen regelte, nie gesehen hatte, schrieb: „Ich glaube, diese Insel wird Europa eines Tages eine Überraschung bereiten“. Die Prophetie sollte in Erfüllung gehen, jedoch in einer Weise, die Rousseau nicht unbedingt gefallen hätte.

Am 15. August kam Napoleon als zweiter Sohn von Carlo und Letizia Bonaparte, geborene Ramolino, in Ajaccio zur Welt. Die Mutter war ungebildet, aber schön, der Vater ein ehrgeiziger Rechtanwalt mit dem unglücklichen Hang zu riskanten Geschäften, die selten etwas einbrachten. Dass die Bonapartes zum Kleinadel gehörten, bedeutete nicht viel. Nur durch ein königliches Stipendium konnte der Sprössling mit dem ungewöhnlichen Vornamen (Letizia rief ihn „Nabulione“) an der Militärschule von Brienne in der Champagne untergebracht werden.

Als Napoleon mit 16 seine Schulzeit beendete und als Unterleutnant in die Garnison von Valence einrückte, war er mehr Korse als Franzose. Er, der später für die Philosophen nur Spott übrig hatte und allem, was als große Idee daherkam, mit Misstrauen begegnete, durchlebte jetzt eine kurze, aber heftige idealistische Phase. Er sah sich als korsischer Patriot, er wollte eine Geschichte Korsikas schreiben und sein Ehrgeiz war darauf gerichtet, eines Tages der Erste in seinem Heimatland zu sein.

Ständig nahm er Urlaub vom Dienst, immer wieder kreuzte er zwischen dem Festland und der Insel. Zuhause machte er sich zunächst daran, Ordnung in die Familienfinanzen zu bringen, die sein früh verstorbener Erzeuger in einem zerrütteten Zustand hinterlassen hatte. Sodann stürzte er sich in die Politik. Unterdessen war in Paris die Revolution ausgebrochen; es dauerte nicht mehr lange, und Ludwig XVI. verlor seinen Kopf unter der Guillotine. Der innerfranzösische Machtkampf griff auf Korsika über, das seit kurzem zu Frankreich gehörte. Auch hier standen sich nun Revolutionäre und Royalisten in mörderischer Feindschaft gegenüber. Napoleon ergriff wie seine Brüder Partei für die Ersteren. Am Stadthaus der Bonapartes in Ajaccio prangte auf einer Banderole: „Evviva la Nazione! Evviva Paoli! Evviva Mirabeau!“ Verwirrt wurden die Frontlinien durch die traditionelle Rivalität der Clans. In Charles André Pozzo di Borgo, mit dem Napoleon einst auf den Straßen von Ajaccio gespielt hatte, und der jetzt auf die konservative Karte setze, erwuchs Napoleon ein Todfeind, der später als Zarenberater nicht unerheblich zu seinem Sturz beitragen sollte. Als die Bonapartes es sich auch noch mit dem alten Freiheitshelden Paoli verdarben, waren sie ihres Lebens nicht mehr sicher. Die Casa Bonaparte in Ajaccio wurde geplündert. „Macht Euch fertig für die Abreise. Dieses Land ist nicht für uns“, warnte Napoleon seine Familie, die sich im Juni 1793 per Schiff auf die Flucht nach Frankreich machte. Vollkommen mittellos fanden die Bonapartes in Toulon Unterschlupf.

Mit der Vertreibung war für Napoleon das Kapitel Korsika ein für allemal beendet. Die Insel, der sein jugendlicher Idealismus gegolten hatte, hatte seine Liebe zurückgewiesen. Es war an der Zeit, die Tatkraft auf andere und größere Ziele zu richten.

 

Über die Kinderjahre Napoleons ist nicht viel bekannt. In der Bonaparte-Familie gab die autoritätsstarke Letizia den Ton an. Den Kindern predigte sie eine spartanische Lebensweise. Oft bekamen sie von ihr zu hören, das Essen diene nur dem Zweck, nicht zu verhungern. „Alles Übrige macht dick‘“. Ihr Geiz war sprichwörtlich. Sie hielt den Beutel selbst dann noch zu, als der Stern des Zweitältesten aufgegangen war und viele Taler in ihren Schoß fielen. Wer sie auf ihren enormen Reichtum ansprach, bekam zur Antwort: „Ich habe sechs oder sieben Fürsten als Kinder, die mir eines Tages auf der Tasche liegen werden“. Nie hörte sie auf, dem Glück zu misstrauen, das ihren Söhnen und Töchtern an den Füßen zu kleben schien. Napoleons Feldherrnsiege lockten sie nicht aus der Reserve, der Kaiserkrönung blieb sie fern. „Pourvu que ca dure!“ („Vorausgesetzt, es bleibt so!“), war eine ihrer Standardformeln. Kein Höfling hätte gewagt, wie die Mutter des Kaisers zu sprechen.

Um Napoleons Geburt ranken sich, wie so häufig, Legenden. Stendhal kolportierte, Letizia habe sich am Festtag Mariä Himmelfahrt gerade in der Messe befunden, „als sie von so drängenden Wehen erfasst ward, dass sie in aller Eile nach Hause gehen musste; ihr Schlafzimmer konnte sie nicht mehr erreichen und genas ihres Kindes im Vorzimmer, auf einem jener altertümlichen Teppiche, welche Heldengestalten von großer Dimension schmückten“. Letizia erklärte die Darstellung später für frei erfunden. Es habe in ihrem Haus überhaupt keine Teppiche gegeben.

Nach eigenem Bekunden war Napoleon ein eigensinniges Kind. Durch seine Mutter bezeugt ist die Neigung zum Jähzorn, die ihm Letizia nicht nur mit Ohrfeigen, sondern gelegentlich auch mit der Peitsche auszutreiben versuchte. Die Neigung zum Aufbrausen hielt sich. Als Konsul und Kaiser zerschlug Napoleon manchmal Porzellan oder er warf seinen Hut, den berühmten Zweispitz, auf den Boden. Aber er war ein guter Schauspieler, so dass offenbleiben muss, ob es sich um Zornausbrüche handelte oder ob er nur seiner Verhandlungsposition Nachdruck verleihen wollte. In Ajaccio, das damals etwa 4000 Einwohner zählte, wurde er von einem Priester in die Kunst des Schreibens und des Lesens eingeführt. Er habe seine Lehrer oft zur Verzweiflung gebracht, erinnerte sich Letizia als alte Frau. „Als er aber doch einmal ein gutes Zeugnis nach Hause brachte, setzte er sich darauf wie auf eine Triumphsäule“. Das mochte ausgeschmückt sein; Genies werden gern als schulische Nullen dargestellt. Tatsache ist, dass sich Napoleon nie mit glänzenden Schulnoten hervortat.

War Napoleon überhaupt Franzose oder wurde er als Ausländer geboren? Als er zu Macht und Ruhm gelangt war, bemühten sich politische Gegner, das Geburtsjahr 1769 in Zweifel zu setzen. Der Schriftsteller Chateaubriand führte ins Feld, Napoleon habe sich ein Jahr jünger gemacht. Wie erwähnt, war Korsika gerade erst in den Besitz Frankreichs gelangt. Als 1768er wäre Napoleon kein Franzose von Geburt gewesen. Aber Chateaubriands Behauptung war wohl ein Fake. Das Geburtsdatum 15. August 1769 ist durch die Taufurkunde und einer schriftlichen Äußerung seines Vaters belegt.

Freilich, legt man an Napoleon den Maßstab französischer Lebensart an, sind Chateaubriands Zweifel durchaus nachvollziehbar. Napoleon war ein hastiger Esser. Seinen Lieblingswein Chambertin, einen Pinot noir von der Côte d’Or, trank er in barbarischer Weise mit ganz viel Wasser. Er war ein Arbeitstier und hatte für Genuss und Muße nicht viel übrig. In dieser Hinsicht also legte er für Frankreich keine Ehre ein. Und auch nicht für Korsika.

 

Günter Müchler ist passionierter Frankreichkenner und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Französischen Revolution und Napoleon. Er studierte Geschichte und Politikwissenschaft und wechselte nach Stationen bei verschiedenen Zeitungen 1987 zum Rundfunk. Bis 2011 war er Programmdirektor von Deutschlandfunk, Deutschlandradio Kultur und DRadio Wissen. Mit einer fulminanten Biographie legt er nun (Frühjahr 2019) die Synthese seiner langjährigen Beschäftigung mit dem großen Korsen vor.

 

 

Aus dem Nichts kommend, stieg der Korse Napoleon Bonaparte, der Französisch erst lernen musste, vom Artillerie-Offizier zum Ersten Konsul auf, wurde der Revolutionär zum Kaiser der Franzosen.
Sprachgewaltig entwirft Günter Müchler die Lebensgeschichte eines Mannes, der in seinem Scheitern auf Sankt Helena selbst am klarsten die eigene Beschränkung erkannte: Der Gestalter und Machtmensch war ebenso Gefangener der Bedingungen, die ihm die Revolution diktiert, wie des europäischen Kampfs der alten mit der neuen Ordnung. »Die Wahrheit ist, dass ich niemals ganz Herr meiner Bewegungen war. Ich habe Pläne gehabt, hatte aber niemals die Freiheit, sie auszuführen. Immer war ich durch die Umstände bestimmt.« - Ein großartiges Portrait, das den Revolutionär auf dem Kaiserthron, das den kometenhaften Aufstieg wie den tiefen Absturz Napoleons in neuem Licht zeigt.

 

 

 

Bitte geben Sie die Zeichenfolge in das nachfolgende Textfeld ein.

Die mit einem * markierten Felder sind Pflichtfelder.

Informationen zum Umgang mit personenbezogenen Daten finden Sie in unseren Datenschutzhinweisen.

  • War Napoleon überhaupt Franzose oder wurde er als Ausländer geboren?

    Eine Frage, die heute für Frankreich - wie für Deutschland, wie auch für ganz Europa – wieder von Bedeutung ist, aber schon vor 250 Jahren widersinnig erscheint. Ein schöner Beitrag, der einen besonderen Aspekt des Lebens des Kaisers der Franzosen beleuchtet.