70/71 – Der Krieg, der Europa veränderte

1870/71 führten die Nachbarländer Frankreich und Deutschland Krieg. Am Ende war das Deutsche Reich entstanden. Ein Gespräch mit dem Historiker und Publizisten Klaus-Jürgen Bremm über die Vermeidbarkeit oder Unvermeidlichkeit dieses Krieges, darüber, wer dieses Reich wollte und welche Folgen diese Ereignisse für Europa hatten.

D. Zimmermann: Lieber Herr Bremm! Am 19. Juli 1871 brach der Deutsch-Französische Krieg aus, der schlussendlich zu einer Klärung der deutschen Frage führte. War dieser Krieg unvermeidlich, quasi ‚alternativlos‘? Oder hätte es auch andere Formen der Lösung dieser Frage geben können?

K.-J. BREMM: Der Krieg war definitiv nicht unvermeidlich. Im Gegenteil! Es gab ja 1870 - wie übrigens auch 1914 - keine wirklich strittigen Fragen zwischen beiden Nationen. Keine Macht stellte damals ernsthaft territoriale Forderungen an den Nachbarn, und der wirtschaftliche Austausch zwischen Zollverein und Frankreich wuchs mit jedem Jahr. Seit 1862 gab es sogar einen Handelsvertrag. Alle Forderungen (aus der Rumpelkiste der Geschichte) kamen erst auf - wie auch 1914 - als die Armeen schon zur Grenze transportiert wurden. Möglicherweise gäbe es heute sogar mehr Konfliktpotential zwischen Frankreich und Deutschland. Denken Sie nur an Mitterrands massiven Druck auf Deutschland, die DM abzuschaffen, oder aktuell an Macrons wiederholte Versuche, in die deutschen Sozialkassen zu greifen. Zum Glück aber haben wir inzwischen nicht mehr die Armeen, um einander an die Gurgel zu gehen.

D. ZIMMERMANN: Frankreich, das Zweite Kaiserreich, welches sich als kontinentale Vormachtstellung sah, wurde militärisch von den deutsch-preußischen Truppen in kurzer Zeit deklassiert. Woran lag es, dass Frankreich so deutlich unterlegen war? War dieser Verlauf vorauszusehen?

K.-J. BREMM: Nein! Frankreich hatte ja das überlegene Infanteriegewehr und die besseren Eisenbahnen. Selbst Moltke rechnete noch im Winter 1869/70 mit einer Anfangsoffensive der Franzosen zum Mittelrhein. Erst im Verlauf des Krieges, so hoffte der preußische Generalstabschef, würde sich die größere Truppenmasse des preußisch-deutschen Heeres bemerkbar machen. Frankreich verfügte zwar über umfangreichere militärische Ressourcen, und Kriegsminister Leboeuf konnte sich durchaus im Recht fühlen wenn er davon sprach, dass Frankreich "erzbereit" (archipret) sei. Die Armee besaß aber nicht das organisatorische Instrumentarium, ihre Mittel zweckmäßig einzusetzen. Es fehlten etwa Generalkommandos oder eine effektive Organisation zur Steuerung großer Truppentransporte auf der Eisenbahn. Kaiser Napoleon III. und seine höchsten Militärs kannten die Probleme durchaus, besaßen aber gegenüber einer modernen, individualisierten Gesellschaft (jedenfalls in den großen Städten), die zwar die früheren Prestigeerfolge der Armee begeistert goutiert hatte, im Grunde aber völlig unmilitärisch war, keine Handhabe, die als notwendig erkannten Reformen politisch durchzusetzen.

 

D. ZIMMERMANN: Die deutschen Truppen marschieren auf Paris; ab September wird die französische Hauptstadt belagert. Was bedeutete es, dass die europäische Metropole, die Kulturhauptstadt des Kontinents dem Feind ausgeliefert ist?

K.-J. BREMM: Nun, 2 Millionen Pariser waren zwar plötzlich von der Welt abgeschnitten, aber dem Feind fühlte man sich durchaus nicht ausgeliefert. Paris war damals die stärkste Festung der Welt und es gab ausreichend Truppen sowie schwere Artillerie zu ihrer Verteidigung. Zudem hofften die Pariser noch bis in die letzten Januartage auf Hilfe von Außen. Mit der zuletzt drückend werdenden Knappheit an Nahrungsmittel und selbst mit dem späteren Bombardement der Deutschen gingen die Hauptstädter sogar erstaunlich gelassen um.

 

D. ZIMMERMANN: Im Januar 1871 wurde auf französischem Boden das Deutsche Kaiserreich ausgerufen. Wer wollte eigentlich dieses Reich? In Deutschland, in Europa? Wer wolle es keinesfalls?

K.-J. BREMM: Im Grunde wollte es, mit Ausnahme einiger Professoren und des Kronprinzen Friedrich Wilhelm, niemand. Selbst der Kaiser nicht. Der Altpreuße Bismarck war mit der Gründung des Norddeutschen Bundes zufrieden und versuchte eher, seine Gewinne von 1866 abzusichern. Bayern und Württemberger hofften auf die Wahrung ihrer Souveränität und waren nicht zuletzt deshalb überhaupt in den Krieg gegen Frankreich eingetreten. Lediglich das Großherzogtum Baden hatte sich schon vor dem Krieg bereit gezeigt, dem Norddeutschen Bund freiwillig beizutreten. Auf europäischer Bühne wiederum äußerten Großbritanniens führende Politiker anfangs zwar Vorbehalte gegenüber der "deutschen Revolution" (Disraeli), akzeptierten aber schließlich Bismarcks Politik, der es ja gelungen war, einen großen europäischen Krieg um die deutsche Frage zu vermeiden. Russland dagegen hatte kein Interesse an der Gründung eines Deutschen Reiches, hatte man doch an der Newa in Preußen immer nur den Juniorpartner gesehen. Der russische Außenminister Gortschakov nahm aber Bismarcks Reichsgründung hin, weil er und Zar Alexander II. im November 1870 der Versuchung nicht widerstehen konnten, Frankreichs Schwäche auszunutzen, um die verhasste Pontusklausel von 1856 zu kippen. Dagegen akzeptierte die Habsburger Monarchie, die sich 1867 durch den Ausgleich mit Ungarn politisch neu aufgestellt hatte, die Bildung eines zweiten Kaiserreiches auf dem Boden des Alten Reiches überraschend schnell, zumal Bismarck allen großdeutschen Ambitionen eine glaubwürdige Absage erteilte hatte. Einzig für Frankreich bedeutete die Reichseinigung eine politische Katastrophe, weil ja die politische Zersplitterung der Deutschen seit den Tagen des Westfälischen Friedens von 1648 seinen Handlungsspielraum erheblich erweitert und seinen Aufstieg zur europäischen Großmacht überhaupt erst ermöglicht hatte.

D. ZIMMERMANN: Die Proklamation des Kaiserreichs fand im Spiegelsaal des Versailler Schlosses statt. 48 Jahre später fand dort ein anderer, denkwürdiger Akt satt. Oft wird eine direkte Linie gezogen von 1871 zum Ersten Weltkrieg - und darüber hinaus. Ist dies nachvollziehbar und begründet?

K.-J. BREMM: Nachvollziehbar schon, aber nicht begründet. Die Dritte Republik hat den Ausgang des Krieges, die territorialen Verluste und die Gründung des Deutschen Reiches - mit Ausnahme einiger Intellektueller - später nicht mehr ernsthaft infrage gestellt. Die meisten französischen Politiker strebten seit 1871 danach, den verlorenen Großmachtstatus wieder zu gewinnen und die außenpolitische Isolation des Landes zu überwinden. Ein dauerndes Offenhalten des Elsass-Lothringen-Problems und der Gedanke an eine militärische Revanche gegen Deutschland hätte ihren politischen Spielraum jedoch zu stark eingeengt und das Erreichen ihrer beiden Hauptziele infrage gestellt. Das Verhältnis zum Deutschen Reich war nicht herzlich und Teile der französischen Elite hassten gewiss die Deutschen oder wenigstens den Kaiser, doch zum Kriegsausbruch von 1914 trug das alles nicht bei. Der Erste Weltkrieg hatte andere Ursachen, etwa die Nationalismen auf dem Balkan oder die Rivalitäten der alten Vielvölkermächte Österreich-Ungarn und Russland. Die deutsch-französische Rivalität bestand zwar im Hintergrund weiter, entfaltete sich aber erst nach Kriegsausbruch. Sie besteht übrigens auch heute zum Teil noch, trotz der demonstrativen Freundschaft und Versöhnung. Wie anders ist es wohl zu verstehen, wenn etwa Francois Mitterrand noch im Winter 1990 durch die Hauptstädte Osteuropas reiste, um dort Stimmung gegen die sich anbahnende deutsche Einheit zu machen? Machen das Freunde wirklich?

D. ZIMMERMANN: Lieber Herr Bremm, ich danke Ihnen für dieses Gespräch!

Klaus-Jürgen Bremm ist Historiker mit dem Spezialgebiet Militärgeschichte und Publizist. Er veröffentlichte zahlreiche erfolgreiche Sachbücher.

 

Es muss ein unglaublicher Triumph für Preußen gewesen sein: Bei Sedan wird der französische Kaiser Napoleon III. gefangen genommen, die deutschen Truppen marschieren auf die französische Hauptstadt und bombardieren Paris, und am 18. Januar 1871 wird Wilhelm I. in Versailles zum Herrscher des neuen, Zweiten Kaiserreichs gekrönt. Der preußische Sieg und die Reichsgründung waren aber auch die entscheidende Wegscheide für die weitere politische Entwicklung Europas, die nur vor dem Hintergrund der Zeit verstanden werden kann.

Klaus-Jürgen Bremm schreibt die erste umfassende Gesamtdarstellung des Deutsch-Französischen Krieges seit langem. Zum 150. Jahrestag erklärt er die komplexe politische Lage nach dem Wiener Kongress und die Gründe für diesen ersten modernen Krieg. Kenntnisreich erzählt er den Verlauf des Waffengangs, schildert Schlachten, Waffentechnik und Strategie. Und er macht verständlich, wie dieser Krieg vor der Mentalität der Zeit, dem wachsenden Nationalstolz, zu verstehen ist.

 

 

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