Aktuelle politische Gedanken Kai-Uwe von Hassels

Haben Gedanken von Berufspolitikern aus den Gründerjahren der Bundesrepublik Deutschland heute noch eine politische Aktualität? Die prägenden Persönlichkeiten der freiheitlich-parlamentarischen Demokratie sind vielen heute kaum noch bekannt. Angesichts rasanter politischer und gesellschaftlicher Veränderungen scheinen ihre Standpunkte und Kritiken für die Gegenwartsprobleme bedeutungslos – zu Unrecht, wie das Beispiel Kai-Uwe von Hassel zeigt. Ihn zeichnet ein spannender und abwechslungsreicher Lebenslauf aus. In Deutsch-Ostafrika geboren, die Schulzeit in Schleswig-Holstein erlebt, dann als Pflanzungskaufmann wieder in Afrika und Soldat im Zweiten Weltkrieg in Italien gewesen, bevor er beim Wiederaufbau Schleswig-Holsteins hilft und Ministerpräsident wird. In der Bundespolitik bekleidet er das Amt des Bundesverteidigungsministers, wird Bundestagspräsident und Abgeordneter des Europa-Parlaments.

Vor dem Hintergrund seiner Lebens- und Politikerfahrungen entwickelt er Grundüberzeugungen und Handlungsmaximen, die nach wie vor Relevanz besitzen. Vor jedem Urnengang des Wahlvolks verweist er auf die Notwendigkeit, dass Politiker den Bürgern die politische Wahrheit sagen müssen. Viele Verantwortliche, behauptet von Hassel, wagten es nicht mehr, den Wählern ihre wirkliche Meinung zu sagen. Sie meiden unbequeme Wahrheiten – eine Schattenseite der Demokratie. Notwendig sei mehr Ehrlichkeit. Politiker neigen der Wählerstimmen wegen zu großen Versprechungen, die jedoch auch eingelöst werden müssen. Sonst machen sich Politiker unglaubwürdig, verspielen Vertrauen der Bürger und leisten radikalen Kräften Vorschub. Gerade in Krisenzeiten argumentieren sie gerne, allen werde es künftig nur besser gehen. Am Ende hätten stets die Wähler alle Versprechen zu bezahlen, was ihnen kaum jemand deutlich kommuniziere. Daher müssten die Finanzierungen zuvor durchkalkuliert sein. Im Nachhinein existierten immer Tausende Gründe, warum sich etwas nicht realisieren lässt oder Unvorhergesehenes dazwischengekommen ist. Von Hassel leitet daraus die Konsequenz ab: Politiker sollen nichts versprechen, was sie nicht halten können. Wichtige Entscheidungen dürften sie nur in Kenntnis der genauen Gegebenheiten und nach Gesprächen mit Betroffenen fällen. Mit großer Leidenschaft lehnt von Hassel Große Koalitionen ab, hält sie gar für demokratieschädlich, weil sie die Polarität schwächen und ständig notwendige Kompromisse eigene Grundhaltungen aufweichen. Er tritt für eine klare Trennung von Regierung und Opposition ein. Ansonsten erhalten radikale Flügel und kleinere Parteigruppierungen unnötig Auftrieb. Sie sind Nutznießer der Situation. Nur eine starke Opposition, eine echte politische Alternative zur Regierungsmehrheit, die ihrerseits die Chance zur Mehrheitsbildung besitzt, können seiner Ansicht nach derlei Gefahren abwenden. Sein zentrales Anliegen lautet: Die Qualität der Abgeordneten und deren Auswahl sind zu verbessern.

Großes Misstrauen hegt er gegenüber Politikern ohne Berufs- und Lebenserfahrung, junge Karrieristen, die direkt in die Politik streben und auf Ämter des eigenen Vorteils willen schielen. Bei jenen stehe nicht der Dienst am Gemeinwohl, sondern die eigene Bereicherung im Mittelpunkt, lautet sein Vorwurf. Voraussetzungen für eine Mandatskandidatur sind für ihn Einsatz-, Aufopferungs- und Verzichtsbereitschaft sowie die Bereitschaft zur Weiterqualifikation, vor allem durch Erlangung von Fremdsprachenkenntnissen. Von Hassel trifft hier den Nerv des Spannungsfeldes in der repräsentativen Demokratie: zwischen erforderlicher Unabhängigkeit der Volksvertreter, dem Erfordernis ihrer existenziellen Absicherung während ihrer Abgeordnetentätigkeiten und unmittelbar danach sowie deren Beeinflussung durch Lobbyisten.

 

 

Vor allem müssen Politiker rechtzeitig Katastrophenvorsorge betreiben. Schon 1960 mahnt von Hassel an, Gefahren der Industriegesellschaft für den eigenen Lebensraum im Bewusstsein der Bevölkerung zu verankern. Auf dem Lande werde an unmöglichsten Stellen gebaut. Die Unsitte nehme zu, Abfallstoffe der zivilisierten Gesellschaft, »alte Matratzen, Töpfe und Verpackungsmaterial bedenkenlos« zu entsorgen oder das Grundwasser mit Sickerstoffen zu verschmutzen. Naturschutz sei kein Relikt der Romantik, sondern Aufklärung über biologische und ökologische Zusammenhänge notwendig. Ungeachtet massiver Proteste hält von Hassel die zivile Nutzung der Kernenergie für erforderlich. Erdöl sei in einhundert Jahren erschöpft, Sonnen- und Windkraft könne herkömmliche Energie nicht ersetzen, mit Kohlenwasserstoff, vorrangig aus Steinkohle, Erdöl und Erdgas zu gewinnen, müsse man haushalten. Es sei ethisch unverantwortlich, zulasten kommender Generationen fossile Energieträger binnen relativ kurzer Zeit zu konsumieren. Stromerzeugung durch Kohle habe erhebliche Belastungen an Schwefeldioxid und Stickoxide zur Folge. Sein Festhalten an der Kernenergie begründet er mit der unzureichenden Bedarfsdeckung alternativer Energien und der Gefährdung des Industriestandortes Deutschlands. Den Ausstieg aus der Atomenergienutzung ohne kompletten Energieersatz hält er für eine fatale Fehlentscheidung.

Außenpolitisch ist von Hassel wegen ständiger Warnung vor der Bedrohung durch die Sowjetunion resp. Russland als Kalter Krieger verschrien, dennoch klagt er unentwegt deren Expansionsgelüste an. Die Territorialmacht besitze eine Überlegenheit bei konventionellen und nuklearen Waffen. Daher sollten pazifistische Kräfte, nicht zuletzt in seiner Evangelischen Kirche, nicht so tun, als sei die Bundesrepublik eine Gefahr für Russland. Es bedürfe der Politik der Stärke des Westens und der Verteidigungsfähigkeit der NATO, um unter Einsatz aller Mittel die Freiheit zu erhalten. Das setzt Vertrauen in die Bereitschaft der USA voraus, im Konfliktfall die Freiheit Westeuropas mit Atomwaffen zu verteidigen. Ein Stopp der »Völkerwanderung« aus Afrika, prophezeit er, gelinge nur bei einem europäischen Zusammenschluss. Eine Rette-sich-wer-kann-Mentalität scheint ihm verhängnisvoll. Scheitere die Einigung Europas, würden die VR China und andere Staaten die Welt regieren.

Schließlich beklagt er die üblen Wirkungen der modernen Mediengesellschaft auf die Politik. Tugend zu üben, sei in der Fernseh-Gesellschaft nicht mehr gefragt. Talkshow-Master maßen sich an, dem Volk den Weg zu weisen. Bei alledem verdrängt das Skandalöse das Wichtige. Die neuen Ziele lauten in seinen Augen: Freiheit und Sicherheit. Letzteres verstanden als »Freiheit von Angst« sowie »Wohlergehen: Arbeit, soziale Ordnung, Wohlstand«.

Die neu bei der wbg erschienene Biografie bietet bisher unbekannte Einsichten in die Denkweise von Hassels, der zum Urgestein der Bundesrepublik zählt.

 

Über das Buch

Kai-Uwe von Hassel (1913–1997), politisches Urgestein der Bundesrepublik, stellt in der ersten Garde junger Berufspolitiker eine Ausnahmeerscheinung dar. Rasant steigt der Bürgermeister von Glücksburg und Ministerpräsident Schleswig-Holsteins in höchste Staats- und Parteiämter auf.

Im Kalten Krieg der 1960er Jahre setzt sich der Bundesverteidigungsminister für die Sicherheit Deutschlands durch nukleare Mitsprache ein und konsolidiert den Aufbau der Bundeswehr. Als Bundestagspräsident setzt er notwendige Parlamentsreformen in Gang. Er engagiert sich für mehr europäische Zusammenarbeit, die Demokratieentwicklung in Südeuropa, Fragen der Entwicklungspolitik und politische Bildungsarbeit.

Es sind einige der Marksteine im Strom eines faszinierenden Lebens, begleitet von hart erarbeiteten Erfolgen, persönlichen Niederlagen und tragischen Schicksalsschlägen.

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Bildnachweise

Alle Abbildungen: © Konrad-Adenauer-Stiftung, Fotograf: Peter Bouserath.

 

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Zum Autor

Hanns Jürgen Küsters ist apl. Professor für Politische Wissenschaft und Zeitgeschichte an der Universität Bonn. Von 2009 bis 2018 war er Leiter der Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung. Er forscht und publiziert über den Ost-West-Konflikt, die Deutschlandpolitik, Entwicklungen der europäischen Einigung und zur Geschichte der Christlichen Demokratie.

 

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