Intelligent, ehrgeizig, skrupellos: Dr. Josef Mengele wurde zum Synonym des Bösen schlechthin. Der »Todesengel« von Auschwitz, der unmenschliche Experimente an Gefangenen durchführte, bei der Selektion an der Rampe Arien pfiff, gilt als einer der berüchtigsten Kriegsverbrecher. Aber obwohl er seit 1945 auf internationalen Fahndungslisten stand, konnte er bis zu seinem Tod 1979 unbelangt in Südamerika leben. David Marwell hat als Spezialist im US-Justizministerium an der Aufdeckung des Schicksals Mengeles mitgewirkt und ist Autor der aktuell bei der wbg erscheinenden Biografie »Mengele. Biographie eines Massenmörders«.
Daniel Zimmermann: Lieber Herr Marwell, seit wann beschäftigen Sie sich mit dem NS-Arzt Josef Mengele?
David Marwell: Obwohl ich schon in meiner Kindheit von Mengele und seinen Vergehen in Auschwitz gehört hatte, wurde er erst zum Fokus meiner Arbeit, als ich Anfang 1985 als Historiker den Untersuchungen des Office of Special Investigations im US-Justizministerium zugeteilt wurde. Ursprünglich waren wir damit beauftragt, Behauptungen zu untersuchen, dass Mengele nach dem Krieg für die Amerikaner gearbeitet haben könnte, aber die Untersuchung weitete sich bald auf den Auftrag aus, ihn zu finden und vor Gericht zu stellen.
Daniel Zimmermann: Als das Team internationaler Spezialisten den als Kriegsverbrecher gesuchten Mengele 1985 in Brasilien aufspürte, war er bereits sechs Jahre tot. Dabei gab es all die Jahrzehnte nach Kriegsende durchaus Kontakte von ihm nach Deutschland. Wer wusste hier von seinem Untertauchen in Südamerika?
David Marwell: Mengeles Anwesenheit in Südamerika war sowohl bei Einzelpersonen als auch bei deutschen Institutionen relativ gut bekannt. Viele in Mengeles Heimatstadt Günzburg lebende Personen wussten, dass der älteste Sohn der prominentesten Familie der Stadt in Südamerika lebte. Enge Vertraute der Familie halfen dabei, Mengele mit Geldmitteln zu versorgen und einen sicheren Kommunikationsweg zwischen dem Flüchtigen und seiner Familie zu ermöglichen. Auch die deutschen Behörden waren informiert. Als Mengeles erste Frau im März 1954 die Scheidung einreichte, wurde in den Unterlagen angegeben, dass Mengele 1948 »nach Argentinien ausgewandert« sei (tatsächlich war es 1949).
Wir wissen auch, dass Mengele im September 1956 bei der deutschen Botschaft in Buenos Aires einen Reisepass beantragte und offenbarte, dass er seit seiner Ankunft in Argentinien unter falschem Namen lebte. Es wurde ihm ein deutscher Pass unter seinem richtigen Namen ausgestellt. Die Staatsanwaltschaft in Freiburg stellte im Februar 1959 einen Haftbefehl gegen ihn aus, seine Auslieferung wurde schließlich im Juni 1960 von den Argentiniern genehmigt – lange, nachdem er das Land verlassen hatte.
Daniel Zimmermann: Ist die Geschichte des Josef Mengele auserzählt, oder glauben Sie, dass sich in den Archiven noch neue Spuren finden lassen?
David Marwell: Ein guter Forscher ist nie sicher, dass er alle relevanten Aufzeichnungen gefunden hat. Ich würde jedoch behaupten, dass weitere Aufzeichnungen eher in privaten Händen zu finden sind. Ich war überrascht, viele meiner eigenen Memoranden, die mir in den USA nicht zur Verfügung standen, in deutscher Übersetzung im Hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden zu bekommen!
Dennoch denke ich, dass Aufzeichnungen in privaten Händen die spannendsten Aussichten bieten. Einige Möglichkeiten: Ich schreibe in meinem Buch über den autobiografischen Roman, den Mengele für seine Familie geschrieben hatte. Wir wissen nicht, ob er auch Passagen über Auschwitz enthielt, aber falls ja, ist er nicht aufgetaucht.
»Aufzeichnungen in privaten Händen bieten die spannendsten Aussichten.«
Innerhalb des letzten Jahrzehnts wurden fünf Briefe von Mengele an seine Frau versteigert, vermutlich von der Familie oder jemandem, der ihr nahesteht. Gibt es noch mehr solcher Briefe? Außerdem bin ich mir sicher, dass Leute, die mit Mengele als Kollegen im Medizinstudium, am Frankfurter Institut, in seiner Militäreinheit und in Auschwitz gedient haben, ihn und seine Aktivitäten sehr wahrscheinlich in ihrem eigenen Brief an ihre Familien erwähnt haben.
Zum Schwerpunkt »Was ist Kultur?«
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Zu den Beteiligten
David G. Marwell ist Historiker und einer der wichtigsten Jäger nationalsozialistischer Kriegsverbrecher, beteiligt an der Aufdeckung der Fälle von Klaus Barbie und Josef Mengele.
Daniel Zimmermann lebt in Mainz und ist Programmmanager im wbg-Lektorat Geschichte. Dort ist er zuständig für die Programme wbg Theiss, wbg Edition, wbg Academic und wbg Zabern.