„Blitzkrieg“ oder „Düsseldorfer Kuhkrieg“ – wie aggressiv-militaristisch sind die Deutschen wirklich?

wbg-Lektor Daniel Zimmermann im Gespräch mit dem Oxforder Historiker Peter H. Wilson

 

Daniel Zimmermann: Lieber Herr Wilson, Sie schreiben eine Geschichte des deutschsprachigen Europas als Militärgeschichte. Sind wir Deutschen eigentlich wirklich ein solch aggressives, in Uniformen verliebtes Volk?

Peter Wilson: Kriege und Militarismus sind in der Tat ein wesentlicher Bestandteil der deutschen Vergangenheit, aber in gleicher Weise sind sie auch Facetten der gemeinsamen menschlichen Geschichte. Es ist nicht hilfreich, verschiedene Länder und Völker nach einem einzigen Maßstab der Aggression zu bewerten. Wir müssen die historische Situation vergleichend betrachten und den Kontext verstehen, in dem militärische Vorbereitungen getroffen und Kriege geführt wurden. Es ist jedoch auch extrem spannend zu untersuchen, warum die Deutschen als so ungewöhnlich militaristisch gelten oder galten, und warum pazifistische und antimilitaristische Traditionen so wenig in Erinnerung blieben.

D.Z.: Der ‚Blitzkrieg‘ heißt ja auch auf Englisch ‚Blitzkrieg‘. Ein scheinbar auf ewig eingefrorener Mythos der deutschen Wehrhaftigkeit und Erstschlagskraft (von der wir Deutschen heute wenig überzeugt sind …). Sie sagen: „Es ist an der Zeit, die gleichsam eingefrorene deutsche Militärgeschichtsschreibung aufzutauen und sie in Einklang mit modernen Zugriffsweisen“ zu bringen. Was ist falsch am Erstschlagsmythos?

P.W.: Die Vorstellung eines schnellen, entscheidenden Sieges ist verständlicherweise verführerisch, aber sie hat sich im Allgemeinen als gefährliche Illusion erwiesen. In Preußen gab es 1870 bspw. gar kein außergewöhnliches "Kriegsgenie", aber ausländische Beobachter kamen nach dem unerwarteten Sieg über Frankreich 1870/71 zu der Überzeugung, dass es ein solches geben müsse. Dieser Erfolg verstärkte die Tendenz der militärischen Führung, einen schnellen, entscheidenden Sieg anzustreben, um sicherzustellen, dass der Erfolg nicht durch das Gespenst des "Volkskriegs" aus dem Auge verloren würde oder dass ein Konflikt nicht in einen langwierigen Zermürbungskampf ausartete, von dem man glaubte, ihn nicht gewinnen zu können. Die Sorge um ihr eifersüchtig gehütetes berufliches Ansehen veranlasste die Generäle des nunmehr kaiserlichen Deutschlands dazu, potenziell vielversprechende diplomatische Lösungen konsequent zu verschmähen und die gefährlichen Aussichten, denen sie sich in einem Krieg gegenübersehen würden, zu unterschätzen. Auch damit waren sie nicht allein, denn ein Großteil der militärischen Führung Österreich-Ungarns teilte 1914 die gleiche Illusion.

 

Stukas über Polen 1939 (© Bundesarchiv 183-1987-1210-502): Der Traum vom schnellen Sieg …

 

Weit davon entfernt, ein ideales Modell dafür zu sein, wie man einen modernen Krieg gewinnt, dient die deutsche Erfahrung als Beispiel dafür, wie man katastrophal verlieren kann. Die Niederlagen in beiden Weltkriegen konnten den Mythos des Erstschlags nicht erschüttern, weil es für viele so aussah, als sei Deutschland dem totalen Sieg sehr nahe gewesen. Die Niederlagen wurden Einzelpersonen und besonderen Umständen angelastet, anstatt sie als Folgen einer grundlegend fehlerhaften Strategie anzuerkennen. Und ehemalige Wehrmachtsoffiziere trugen ganz persönlich zur Aufrechterhaltung des Mythos bei, da dieser ihren materiellen Interessen und ihrem Selbstwertgefühl diente.

 

… und der Albtraum des totalen Untergangs (Berlin, 3. Juni 1945).

 

Das US-Militär akzeptierte die Version dieser Wehrmacht-Offiziere viel zu bereitwillig, was zu Amerikas eigener Illusion der Möglichkeit eines kurzen, siegreichen Krieges beigetragen hat. Die erste Bush-Regierung propagierte in den 1990er Jahren eine hochtechnologische Form der geradezu wissenschaftlich präzisen Kriegsführung, die einen dauerhaften Vorteil gegenüber dem Gegner sichern sollte. Solche Ideen sind nach wie vor verführerisch, vor allem in modernen, demokratischen Gesellschaften, die nicht bereit sind, die Folgen und wahren Kosten von Konflikten zu akzeptieren.

D.Z.: Von der Besonderheit einer ‚deutschen‘ Kriegsführung zu sprechen ist schon deshalb problematisch, weil wir von einem unglaublich heterogenen Flickenteppich sprechen. Kleine Grafschaften und Preußen oder Habsburg lassen sich kaum vergleichen. Und noch im Kaiserreich nach 1871 gab es eigene Heere der Württemberger, der Sachsen oder Bayerns. Welche Akteure waren denn die potenziell aggressiven, welche müssen wir eher zu den ‚Pazifisten‘ rechnen?

P.W.: Genauso wie es falsch wäre, Deutschland als Ganzes einen singulär kriegerisch Charakter zu unterstellen, so sollten wir nicht davon ausgehen, dass bestimmte Territorien des großen historischen deutschen politischen Raums notwendigerweise aggressiver waren als andere. Es ist schlicht zu einfach, von "kriegerischen" Preußen oder "friedlichen" Bayern auszugehen.

Bis 1866 war das habsburgische Österreich, nicht das Hohenzollern-Preußen, die aktivste deutsche Militärmacht. Es verfügte eindeutig über die größte Armee, die auch von vielen anderen deutschen Fürstentümern wie auch von anderen Europäern als Vorbild angesehen wurde. Die Habsburger waren bis in die 1880er Jahre auch die führende deutsche Seemacht und lagen selbst 1914 noch an siebter Stelle der Weltmarinen, noch vor Russland. Vor 1740 war nur Österreich in der Lage, ohne fremde Hilfe Angriffskriege zu führen, und obwohl es danach mehrmals besiegt wurde, hatte Österreich einen deutlich größeren Überlebensvorteil als Preußen, das im Siebenjährigen Krieg 1757/59 und 1806/7 fast völlig untergegangen wäre.

Ein wichtiger Grund für die größere Kapazität Österreichs war seine privilegierte Stellung innerhalb des umfassenderen Systems kollektiver Sicherheit, das für das Heilige Römische Reich kennzeichnend war und das in abgewandelter Form in den Deutschen Bund von 1815-66 übernommen wurde. Diese dezentralisierte Struktur erklärt den stark regionalen Charakter der deutschen Militärgeschichte, in der jedes Territorium oder jede große autonome Stadt wie Frankfurt verpflichtet war, zur gemeinsamen Verteidigung und zu friedenserhaltenden Missionen beizutragen. Diese Traditionen blieben selbst dann bestehen, als die meisten kleineren Fürstentümer, Herrschaften und Städte im Zuge der politischen Konsolidierung, die während der napoleonischen Ära begann, von ihren mächtigeren Nachbarn geschluckt wurden. Auch wenn diese Unterschiede nach 1919 weitgehend verschwunden sind, sollten wir nicht vergessen, dass die Existenz der beiden deutschen Staaten 1945-90 wieder getrennte Streitkräfte und unterschiedliche Formen der Auseinandersetzung mit der Militärgeschichte hervorbrachte. Ebenso haben sowohl Österreich als auch die Schweiz ihre eigenen Charakteristika, obwohl sie viel mit der eigentlichen deutschen Militärgeschichte gemeinsam haben.

D.Z.: ‚Militärgeschichte‘, modern angewandt, meint ja wirklich nicht nur Waffen oder Kriegführung. Sie reicht ja weit in die Gesellschafts- und Mentalitätsgeschichte hinein, betrifft Wirtschaft und Finanzen. In welchen Bereichen wirkt sich der militärische Komplex in den deutschen Ländern denn am deutlichsten aus?

P.W.: Ja, wir können die Militärgeschichte nur verstehen, wenn wir sie in einen denkbar breiten Kontext einordnen. Sie lässt sich nicht auf rein technische Aspekte reduzieren, denn auch Waffen haben eine soziale, kulturelle und eine wirtschaftliche Geschichte. Wie so vieles im deutschen Leben wurden auch die Auswirkungen der Kriegsführung und der Kriegsvorbereitungen durch die historische Verteilung der politischen Autorität beeinflusst. Anders als beispielsweise in Frankreich oder Großbritannien wurde die Macht erst relativ spät zentralisiert, und selbst dann blieb sie föderal organisiert, außer zwischen 1933 und 1945 und in der DDR bis 1990. Die militärische Macht folgte dieser Ausbreitung, was bedeutet, dass sie sich auch geografisch ausbreitete. Das Klischee der Kleinstaaterei erweckt den falschen Eindruck, dass die zahlreichen deutschen Armeen irgendwie irrelevant und von der Gesellschaft losgelöst waren. Im Verhältnis zur Einwohnerzahl waren sie oft recht schwerfällig, und selbst zweit- und drittrangige Territorien wie Hessen-Darmstadt oder Nassau wandten viel Geld für ihre Bewaffnung auf.

Wenn wir dem Geld folgen, sehen wir, wie sich die Kriegsführung auf alle Teile der deutschen Gesellschaft auswirkte. Die Militärausgaben verschlangen den größten Teil der öffentlichen Einnahmen und waren die Hauptursache für die langfristige Verschuldung nicht nur der Fürsten, sondern auch der Gemeinden, die für die Beschaffung, Bezahlung, Bekleidung, Ausrüstung und Ernährung der Soldaten aufkommen mussten. Hohe Militärausgaben trieben die institutionelle Entwicklung voran, da die Herrscher versuchten, aus einer begrenzten Menge an Untertanen möglichst effizient möglichst viele Geldmittel herauszuholen. Die wirtschaftliche Entwicklung wurde dadurch jedoch nur selten gefördert. Große Rüstungsunternehmen wie Krupp waren selten, und in der Tat war Krupp im Deutschland des späten neunzehnten Jahrhunderts eine Ausnahme, da es in erster Linie vom Verkauf von Waffen abhängig war.

D.Z.: Historiker machen das nicht gerne, ich weiß, aber wenn Sie einen Blick auf Deutschland 2023 werfen: Wo steht Deutschland in militärischer Hinsicht im Vergleich zu seinen europäischen Nachbarn?

P.W.: Oh, das ist in der Tat eine schwierige Frage, aber wenn wir ungefähr die letzten 80 Jahre betrachten, so scheinen einige Aspekte klar zu sein. Deutschland hat im Großen und Ganzen den Wandel der westlichen Welt von einem "modernen" zu einem "postmodernen" Muster der Kriegsführung mitgemacht. Moderne Muster der Kriegführung bestanden noch bis ins späte zwanzigste Jahrhundert hinein und waren durch das Ideal des modernen souveränen Staates gekennzeichnet, der die legitime Gewalt in Form von nationalen Streitkräften, die aus Bürgersoldaten bestanden, monopolisierte. Im Falle Deutschlands handelte es sich dabei um Wehrpflichtige, und zum Militärdienst wurde, wie schon im 19. Jahrhundert, ein beträchtlicher Teil der männlichen Bevölkerung pflichtgemäß einberufen.

Dieses Modell ist weitgehend verschwunden, auch wenn die politische Rhetorik und das öffentliche Verständnis noch nicht mit den zugrunde liegenden Veränderungen Schritt gehalten haben. Wie andere westliche Länder nutzte auch Deutschland die "Friedensdividende", die das Ende des Kalten Krieges mit sich brachte, und reduzierte seine Streitkräfte erheblich, die sich nur schwer an die neuen Gegebenheiten anpassen konnten. Dieser Prozess nahm aufgrund der Wiedervereinigung und der Notwendigkeit, die ehemalige Nationale Volksarmee zu integrieren, einen besonderen Verlauf. Der Truppenabbau fand im Rahmen der kollektiven Sicherheit der NATO und zunehmend auch der EU-Strukturen statt. Dies hat, wenn auch unbeabsichtigt, den Übergang zu einer postmodernen Verteidigungshaltung beschleunigt. Trotz seines schieren wirtschaftlichen Gewichts, das es ihm ermöglicht, vergleichsweise viel Geld für die Verteidigung auszugeben, ist Deutschland - wie praktisch alle anderen westlichen Länder - nicht mehr in der Lage, einseitige militärische Maßnahmen zu ergreifen. Das mag den Politikern und der Öffentlichkeit nicht gefallen, aber das Land hat bereits ein Schlüsselelement klassischer, "moderner" Souveränität verloren, indem es nicht allein aggressiv-kriegerisch handeln kann. Das ist nicht unbedingt schlecht, denn kollektive Sicherheit entspricht der deutschen Vergangenheit eigentlich eher als unilaterales, aggressives Handeln.

D.Z.: Ich danke Ihnen, lieber Herr Wilson, ganz herzlich für dieses Gespräch!

 

Über das Buch

Die meiste Zeit war das deutschsprachige Zentrum Europas in zahllose Staaten zersplittert, von denen einige groß waren (wie Österreich oder Preußen) und andere nur aus ein paar Dörfern bestanden. So waren auch die militärischen Erfahrungen der verschiedenen Territorien absolut unterschiedlich. Peter H. Wilson fächert die gesamte Militärgeschichte des deutschsprachigen Raums in den letzten 5 Jahrhunderten auf und berücksichtigt dabei alles, von der Waffenentwicklung bis hin zur Strategie, von den wirtschaftlichen Grundlagen bis zu den gesellschaftlichen Folgen.

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Zu den Beteiligten

Prof. Dr. Peter H. Wilson Peter H. Wilson ist Lehrstuhlinhaber für Militärgeschichte an der Oxford University. Er hat zahlreiche erfolgreiche Bücher zur deutschen und europäischen Militärgeschichte der Neuzeit veröffentlicht, darunter das preisgekrönte und viel gelobte Standardwerk "Der Dreißigjährige Krieg" (wbg Theiss).

Foto: © picture alliance Bernd von Jutrczenka, dpa

 

 

Daniel Zimmermann lebt in Mainz und ist Programmmanager im wbg-Lektorat Geschichte. Dort ist er zuständig für die Programme wbg Theiss, wbg Edition, wbg Academic und wbg Zabern.

 

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