Wenn Menschen kein Ideal haben, das ihre individuelle Existenz übersteigt, dann ziehen sie sich in die Privatsphäre zurück, und häufig sind es dann materieller Erfolg und familiäres Glück, die dem Leben einen Sinn verleihen.
Aber Misserfolge, Enttäuschungen und der soziale Druck, der bei jedem Einzelnen dazu führt, dass er seinen Wert am Maßstab der Erfolgskriterien misst, die vom Markt vorgegeben werden, führen zur Verbitterung. Denn mit dem zufrieden zu sein, was man hat, ist unmöglich, wenn man Geld und Erfolg in den Rang der höchsten Güter erhebt und wenn man in einer Welt lebt, die von den Werten der Leistung und des Wettbewerbs regiert wird. Weil sie bedingte, unsichere Güter erstreben, verspüren die Individuen ein Gefühl der Nutzlosigkeit, sobald der Zugang zu diesen Gütern gefährdet ist und sie nicht mehr den sozialen Status haben, der es ihnen erlaubt, die moralische und geistige Leere in ihrem Leben zu füllen.
Wir alle haben das Bedürfnis, für etwas oder jemanden zu leben. Ohne eine Perspektive, die uns einen Horizont der Hoffnung eröffnet, verfallen wir in eine Art Depression, die auch eine kollektive sein kann. Das ist es, was im Westen passierte – zunächst mit der Entchristianisierung, dann mit dem Zusammenbruch der Ideale der Aufklärung, der auf Auschwitz und Hiroshima folgte. Die Verbrechen des Kolonialismus haben auch den Werteuniversalismus in Verruf gebracht, den man verdächtigte, zu hegemonialen Bestrebungen zu führen. Schließlich haben der Fall der Berliner Mauer und die Entdeckung der sowjetischen Lager das Ende der politischen Ideologien eingeläutet. Am Ende des 20. Jahrhunderts war die Utopie zu einem Tabu geworden: Es war nicht mehr möglich, der Geschichte eine Richtung zu geben, ohne damit die Angst vor dem Totalitarismus wieder lebendig werden zu lassen. Diese Situation hat ein Klima der Verzweiflung geschaffen: Die Individuen, die das Gefühl dafür verloren hatten, einer gemeinsamen Welt anzugehören, machten die Erfahrung der Entsubjektivierung, die sie dem Konsum ausgeliefert oder anfällig gemacht hat für Nationalismus oder religiösen Fanatismus.
»Wir alle haben das Bedürfnis, für etwas oder jemanden zu leben.«
Die Ökologie eröffnet heutzutage die Möglichkeit, einen Universalismus zu denken, der nicht hegemonial ist, und uns für eine Sache zu engagieren, ohne dabei in eine Tyrannei des Guten zu verfallen. Indem wir auf dem bestehen, was die Gemeinsamkeit der menschlichen Art begründet, und indem wir empfänglich sind für die Verletzlichkeit, die wir mit den anderen Lebewesen teilen, können wir die Grundlage einer echten Solidarität legen, die die nationalen Grenzen überschreitet.
»Leben heißt nicht nur, für sich zu leben, sondern besteht auch in dem Bedürfnis, diese gemeinsame Welt zu erhalten.«
Unser individuelles Leben gewinnt dann auch an Tiefe, wenn wir verstehen, dass wir einer gemeinsamen Welt angehören, die uns bei unserer Geburt empfängt und die unseren individuellen Tod überleben wird. Weil sie sich aus der Gesamtheit der Generationen sowie aus dem natürlichen und kulturellen Erbe zusammensetzt, ist diese gemeinsame Welt wie eine Transzendenz in der Immanenz und verleiht unseren individuellen und kollektiven Entscheidungen einen Sinn: Leben heißt nicht nur, für sich zu leben, sondern besteht auch in dem Bedürfnis, diese gemeinsame Welt zu erhalten. Im Hier und Jetzt so zu handeln, dass man sein Möglichstes dafür tut, eine bewohnbare Welt weiterzugeben: Das ist das Prinzip, auf das sich das ökologische Engagement gründet. Es beruht auf dem Bewusstsein jedes Einzelnen für seine Verantwortlichkeit und für seine Fähigkeit, zu handeln und mit den anderen zusammenzuarbeiten, um ein nachhaltigeres und gerechteres Entwicklungsmodell zu fördern.
Zur Autorin:
Corine Pelluchon lehrt Philosophie an der Université Gustave Eiffel (Marne-la-Vallée). Ihre Schwerpunkte sind Moralphilosophie, Politische Philosophie sowie angewandte Ethik (Bioethik, Umwelt- und Tierethik). Sie ist Trägerin des Günther-Anders-Preises für kritisches Denken 2020.
Foto: © Edouard Caupeil