Ein Beitrag von Folker Reichert
Man kann das Buch in zwei ungleich große Hälften aufteilen. Die erste handelt von den Grundlagen, deren der Kreuzzugsgedanke bedurfte, um in Erscheinung zu treten, die zweite vom Wirken der Reformpäpste, das den Gedanken in die Wirklichkeit überführte. Drei von ihnen ziehen alle Aufmerksamkeit auf sich: Leo IX., mehr noch Gregor VII. und natürlich Urban II., mit dem die kanonisierte Kreuzzugsgeschichte beginnt. Leo kommt immerhin das Verdienst zu, als erster Papst über eine eigene Truppe verfügt zu haben, die unter päpstlicher Flagge für die Reform der Kirche kämpfte. Ihre Toten wurden als Märtyrer betrachtet. Den Lebenden wurde der Erlass von Bußstrafen, also Ablass, in Aussicht gestellt. Für Erdmann war Leo ein „kriegerischer Hirte“ und „Eiferer für die Reform“ zugleich, „der erste Papst, der grundsätzlich seine Kriege aus der Religion herleitete, sie mit den Geboten der Kirche in Einklang brachte und den kriegerischen Geist des Heeres mit kirchlichem Sinn durchdrang“ (S. 115 f.).
Links: Leo IX. in einer Briefsammlung des 11. Jahrhunderts. Rechts: Darstellung Gregors VII. Beginn der Vita Gregorii VII. Pauls von Bernried, Heiligenkreuz, Stiftsbibliothek, Cod. 12, fol. 181v.
Mehr noch trieb Gregor VII. die Entwicklung voran. Welche Rolle er spielte, gibt Erdmanns Buch schon in den Proportionen wieder: Vier von zehn Kapiteln sind seinem Pontifikat vorbehalten. Dabei gehörte Erdmann nicht zu Gregors Verehrern. Er nannte ihn den „kriegerischste[n] Papst, der je auf Petri Stuhl gesessen hat“ (S. 165), und ließ nie einen Zweifel daran, dass er das für ein Übel hielt, nicht für eine Tugend. Bis in seine Sprache hinein habe sich Gregors streitbares Denken bemerkbar gemacht. Das Bibelwort: „Verflucht, wer seinem Schwerte das Blut missgönnt“ (Jeremia 48,10) habe er besonders gerne zitiert. Die wenig früher formulierte Zwei-Schwerter-Lehre, deren eines der Papst, das andere der Kaiser zu führen habe, stand ihm zwar vor Augen; aber er wollte notfalls beide gebrauchen, das geistliche und das weltliche zugleich. Erdmann hielt das alles für überspannt, und dass eine Frau, die Gräfin Mathilde von Tuszien, sich rastlos in Kriegen für die Kirche verzehrte, schien ihm geradezu „unnatürlich“ zu sein (S. 207).
Das Feldzeichen als Symbol einer »Ritterschaft des hl. Petrus«
Doch ungeachtet der weltanschaulichen Distanz, die Erdmann an den Tag legte: seine symbol- und ideengeschichtlichen Untersuchungen zeigen, worin Gregors Beitrag zur Entstehung des Kreuzzugsgedankens bestand. Denn einerseits setzte er fort, womit seine Vorgänger begonnen hatten, als sie verbündeten Herrschern „Petersfahnen“ verliehen. Andererseits verstand er das Feldzeichen als Symbol einer „Ritterschaft des hl. Petrus“ (militia sancti Petri), die er dem weltlichen Adel empfahl. Für Erdmann war das „der zentralste Begriff“ (S. 189). Denn mit ihm kam völlig Neues zum Ausdruck. Hatte bis dahin nur das certamen spirituale des Asketen, der geistliche Kampf im Kloster, als militia Christi gegolten, so propagierte Gregor auch und vor allem den wirklichen Krieg im Namen der römischen Kirche als Dienst an Gott.
Papst Urban II.
Sein Nachfolger Urban II. fasste militia sancti Petri und Heidenkrieg zu einem allgemeinen Kreuzzug zusammen. Mit „unvergleichlicher Geschicklichkeit“ habe er den Zeitgeist erfasst (S. 314) und auf ein besonders attraktives Ziel hingelenkt. Indem er die Jerusalemsehnsucht der Wallfahrer ansprach und sie mit der Gewaltbereitschaft der Kreuzfahrer verband, sei die Heilige Stadt zum „Marschziel“ geworden; aber „Kriegsziel“ sei der Sieg über die Muslime geblieben (S. 298). Indem er einen von Paul Fridolin Kehr entdeckten Kreuzzugsaufruf neu datierte und erstmals interpretierte, hob Erdmann die Gleichwertigkeit der Kriegsschauplätze Spanien und Palästina hervor. Hier wie dort seien jene Kernelemente zu finden, die die Kreuzzüge in ihrer kompletten Form kennzeichnen sollten: geistliche Führung, innerer Friede, Ablass, Kreuznahme und Fahnenweihe. Urban hatte also an Traditionen angeknüpft und gleichzeitig etwas Neues geschaffen. Daraus habe sich ein „Ineinander von historischer Kontinuität und Revolution“ ergeben, „wie es den bewegenden Ereignissen der Weltgeschichte eigen ist“. Mit diesen lapidaren Worten endet das Buch (S. 314).
Über das Buch
Carl Erdmanns „Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens“ (1935) gilt bis heute international als Klassiker. Nach Jahrzehnten nun macht die wbg dieses Meisterwerk der Geschichtsschreibung wieder zugänglich, versehen mit einem Nachwort von Folker Reichert. Damit ist das Hauptwerk des aufrechten Historikers nun endlich wieder zugänglich.
»Ein Klassiker, dessen Lektüre sich bis auf den heutigen Tag lohnt.«
– Folker Reichert
Weiterführende Links
Carl Erdmanns Begriff vom heiligen Krieg
Zur Rezeption von Carl Erdmanns Werk
Zu den Beteiligten
Carl Erdmann (1898-1945) gilt als einer der bedeutendsten deutschen Mediävisten des 20. Jahrhunderts, sein Hauptwerk „Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens“ als Klassiker. Dabei hatte der 1932 Habilitierte nie einen Lehrstuhl inne, sondern fristete seine letzten Lebensjahre als überzeugter Gegner der Nationalsozialisten im akademischen Prekariat. An ihn erinnert auch der Preis des Verbands der Historikerinnen und Historiker Deutschlands (VHD) für herausragende Habilitationen im Bereich Geschichte.
Prof. Dr. Folker Reichert, geb. 1949, lehrte Mittlere Geschichte an der Universität Stuttgart. Er ist einer der besten Spezialisten für die Geschichte des Reisen, der Entdeckungen und der Fremdwahrnehmung im Mittelalter.