»Da kann man etwas wissen« (Louie, 5 Jahre) – in diesem Sinne stellt Susanne Billig in lockerer Folge empfehlenswerte Kindersachbücher vor. Die Liebe zum Lesen beginnt bei vielen schon im Kindesalter. Mit spannenden und lehrreichen Sachbüchern können Kinder die Welt von zu Hause aus entdecken! Auch Susanne Billig, Journalistin, Sachbuchrezensentin für den Deutschlandfunk Kultur und Jurymitglied der Sachbuchbestenliste von ZEIT, ZDF und DLF Kultur, entdeckt gerne das ein oder andere Sachbuch und stellt hier ihre Favoriten im Bereich Kinder- und Jugendbücher vor. Sachbücher erklären Kindern das Reich der Tiere oder zeigen, wie unser Universum aufgebaut ist. Aber auch darüber hinaus wartet viel Wissen, das die jungen Leser:innen entdecken können. Susanne Billig findet die Schätze unter den Sachbüchern für Kinder und Jugendliche, die großen Spaß am Lesen garantieren.
Reiche Welt zwischen Moskau und dem Japanischen Meer
Hautnah tauchen Kinder und Erwachsene mit diesem großformatigen Buch in das Abenteuer Transsibirische Eisenbahn ein. In zahllosen großen und kleinen Zeichnungen – liebenswert mit dickem Strich und kräftigen Farben auf den Seiten verteilt – lernen sie 38 Orte entlang der zehntausend Kilometer langen Strecke kennen: Straßen, Plätze, Menschen und Geschichten. Der Botanische Garten in Kirow. Das Heißluftballon-Festival in Kungur. Tatiana und Sascha in Ljubinskaja. Den stolzen Wasserturm von Ujar. Bis dahin haben die Reisenden schon viertausend Kilometer hinter sich gebracht. Auch aus dem Inneren des Zuges wissen Autorin und Zeichnerin viel zu erzählen: Die Schaffnerin verkauft Lotterielose. Kinder schlafen in Hängematten mit Reißverschluss. Lieferdienste reichen warme Mahlzeiten durch die Zugfenster. Und wenn jemand auf der Gitarre Gassenhauer zupft, schmettert das ganze Abteil glücklich »Yesterday«. Ein Buch so reich wie die große weite Welt zwischen Moskau und dem Japanischen Meer.
Zauber der Evolution
Eine verwegene Zauberin ist die Evolution: Vor 50 Millionen Jahren nimmt sie ein katzengroßes Tier. Als es vor seinen Feinden ins Wasser flieht, schrumpft sie seine Beine, raubt ihm den Gleichgewichtssinn, schiebt die Nasenlöcher zum Scheitel, bis – 48 Millionen Jahre später – ein mächtiger Blauwal durch die Ozeane schnaubt. Anspruchsvolle und doch kindgerecht erzählte biologische Wunder aus dreieinhalb Milliarden Jahren Evolution, dazu Illustrationen von anrührender Poesie in zartem Braun, Grün und Blau – diese Spaziergänge durch die Geschichte des Lebens entfalten einen besonderen Sog. Auch das Unheil des menschengemachten Massenaussterbens spart das Buch nicht aus, dennoch lässt es am Ende Raum für Hoffnung: Eines Tages – wer weiß, wo die Menschen dann sind – wird sich das Mittelmeer zu einem Gebirge auffalten. Das Leben wird sich weiterentwickeln, so lange der blaue Planet existiert. Auf der letzten Seite fliegt ein Vogel in den blassblauen Himmel auf und davon. Wohin?
Dem Elefanten unter die Ohren schauen
Hat ein Buch das Prinzip der interaktiven Pappklappen je so opulent gefeiert wie dieses? Auf neun Doppelseiten können Kinder Tiere und deren Körper spielerisch mit Augen und Händen entdecken: Was wird wohl passieren, wenn man den Bauch des Blauwals beiseite hebt, in das Haus der Weinbergschnecke lugt, das Straußenei aufklappt, dem Pferd unter die Augen schaut und dem Elefanten hinter die Ohren? Sogar kleine Büchlein, die sich extra umblättern lassen, finden sich, dazu Drehscheiben, etwa um die Verwandlungsphasen der Raupe zum Schmetterling an sich vorbeiziehen zu lassen. Mitten im Buch reißt ein Wolf jäh seine Schnauze auf – so mächtig und überraschend, dass selbst Erwachsenen ein respektvoller Schauer über den Rücken läuft. Geburt, Wachstum, Sinneswahrnehmungen, Fressen und Trinken lauten einige der Leitthemen. Das ist so gut überlegt und so abwechslungsreich dargeboten, dass der Buchtitel für das, was sich Autorin und Illustratorin hier ausgedacht haben, fast zu einfallslos klingt!
Konzentrierte Ruhe, grelle Explosionen
»Eintritt frei« heißt die Reihe großformatiger Bilderbücher, die Kinder auf einen virtuellen Museumsbesuch einlädt. Nun geht es ins Planetarium – einen Ort, der wie das Museum einen Hauch Nostalgie verströmt. Konzentrierte Ruhe hier unten, rätselhafte Weite dort draußen: Diese Atmosphäre fängt das Buch perfekt ein. Leicht verständlich und spürbar vom Weltall fasziniert notiert Raman Prinja, was sich über Sonnensystem, Nachthimmel, Sterne und Galaxien sagen lässt – erfrischend frei von jedem Anspruch auf Vollständigkeit. Die seitenfüllenden Bilder zeigen NASA-Fotos, verwandelt in Holzschnitte. Das wirkt visuell wie aus der Zeit gefallen und sieht doch wunderschön aus, wenn auf pechschwarzem Papier gelbglühend schraffierte Sonnen wandern und Galaxien in tausend Wellenlinien explodieren. 12 der Bilder mit leicht abgespecktem Text finden sich in dem dazugehörigen Kalender im Poster-Format – doch das Buch mit seinem matten Papier und den verhaltenen Farben bleibt atmosphärisch dichter.
Länder und Leute in Collagen voller Details
4.400 Kilometer strömt die Lena durch Sibirien. Im Winter zugefroren, im Frühjahr ein Tosen der Eisschollen, kein Staudamm nimmt es mit dieser Naturgewalt auf. Auf farbgefüllten Doppelseiten präsentiert der Foliant – für die Stiftung Buchkunst eines der schönsten Bücher 2021 – 18 Flüsse, vom Amazonas bis zum Jangtsekiang. 12 davon finden sich in dem noch etwas größeren Kalender. Detailreiche Collagen aus der unverwechselbaren Feder Martin Haakes laden ein, das bunte Leben links und rechts der Ufer kennenzulernen. Maßstäbe lösen sich auf, wenn Städte winzig und Vögel imposant zu sehen sind. Optisch gut eingebettete knappe Texte erzählen von Land, Leuten, Natur und sogar modernen Konflikten. Etwas mehr Kulturen vor Ort, etwas weniger Tiere und Kolonialzeit hätten es an den Ufern afrikanischer und südamerikanischer Ströme sein können – für aufmerksame Eltern eine Gelegenheit, mit ihren Kindern ins Gespräch zu kommen: in einem kleinen Schritt zurück vom Buch zur Reflexion über das Buch.
Mehr Kinder- und Jugendbücher entdecken
Zur Rezensentin
Susanne Billig, geboren 1961 in NRW, hat in Berlin Biologie studiert. Nach einem Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung im Bereich Wissenschafts-Journalismus schrieb sie als freie Journalistin unter anderem für die Tageszeitung, den Tagesspiegel, das Greenpeace Magazin und das Stadtmagazin zitty und gestaltete Sendungen für das Fernsehprogramm der Deutschen Welle sowie für das Wissenschaftsprogramm von Deutschlandfunk und WDR. Seit inzwischen vielen Jahren ist sie Sachbuch-Rezensentin des Deutschlandfunk Kultur und Jurymitglied der Sachbuch-Bestenliste von ZDF, ZEIT und DLF Kultur. Susanne Billig ist außerdem Chefredakteurin der Zeitschrift BUDDHISMUS aktuell.