Das anthropische Prinzip und seine Konsequenz

Das anthropische Prinzip ist bedeutsam für kosmologische Theorien wie für die Maxime unseres Handelns. Allerdings geht dies nicht aus der allgemeinen Formulierung hervor, wie wir sie etwa unter Wikipedia einleitend finden. Danach besagt das anthropische Prinzip, „dass das beobachtbare Universum nur deshalb beobachtbar ist, weil es alle Eigenschaften hat, die dem Beobachter ein Leben ermöglichen. Wäre es nicht für die Entwicklung bewusstseinsfähigen Lebens geeignet, so wäre auch niemand da, der es beschreiben könnte.“ In dieser Form wirkt das Prinzip tautologisch.

Folgenreich ist das anthropische Prinzip aber in dem Sinne, dass es von einer kosmologischen Theorie verlangt, dass sie Bedingungen für Entstehung und Entwicklung einer Welt beschreibt, die Wesen wie uns Menschen hervorbringen können. Das ist eine große Herausforderung, weil nach allem, was wir wissen, unsere Existenz das Ergebnis eines höchst unwahrscheinlichen Zusammentreffens etlicher Parameter ist, z. B.:

  1. Beim Urknall müsste fast ebenso viel Antimaterie wie Materie entstanden sein. Der bestehende gewaltige Überschuss an Materie ist ein höchst unwahrscheinliches Ergebnis.
  2. Die kosmische Hintergrundstrahlung zeigt Temperaturschwankungen von 0,001 %. Diese winzigen Inhomogenitäten waren verantwortlich für die Entstehung von Galaxien. Wären sie noch kleiner gewesen, bestünde die Welt nur aus einer Wolke aus Wasserstoffgas.
  3. Die Ausdehnungsgeschwindigkeit des frühen Universums war exakt so hoch, dass es bei einer Abweichung von nur 0,00000000000000000000000000001 % entweder frühzeitig kollabiert wäre, oder es hätten sich keine Sterne und damit keine schweren Elemente bilden können.
  4. Würden die Grundkräfte der Physik nur um wenige Prozente von ihren beobachteten Werten abweichen, wären im Innern der Sterne Kohlenstoff und Sauerstoff vernichtet worden, und Leben in unserem Sinne hätte sich nicht entwickeln können.
  5. Die Erde bewegt sich auf ihrer Bahn um die Sonne seit Jahrmilliarden in einer schmalen „habitablen Zone“, außerhalb derer das lebenswichtige Wasser entweder verdampfen oder zu Eis erstarren würde.

Innerhalb von Religionsgemeinschaften hat dieses Zusammentreffen von Unwahrscheinlichkeiten den Glauben an einen Schöpfergott oder einen intelligenten Designer bestärkt, der im Sinne von Leibniz die bestmögliche Welt geschaffen hat. Innerhalb der Wissenschaften hat das anthropische Prinzip zu unterschiedlichen Folgerungen geführt. John Wheeler ist überzeugt, dass der intelligente Beobachter notwendig ist, damit das Universum existiert. Diese teleologische (zielgerichtete) Auffassung widerspricht allerdings dem verbreiteten Grundkonsens in den Wissenschaften, nur teleonome (kausalanalytische) Theorien zuzulassen. Viele Wissenschaftler versuchen daher, auch das Unwahrscheinliche mit innerer Notwendigkeit herzuleiten.

Das Zustandekommen unserer heutigen Welt war etwa so wahrscheinlich, wie mit dem Würfel 999-mal hintereinander eine 6 zu werfen. Dennoch hält die Wissenschaft einen Lösungsvorschlag für das Rätsel einer solchen Unwahrscheinlichkeit bereit. Nach der Viele-Welten-Theorie, wie sie etwa Stephen Hawkins vertritt, ist unser Universum eins von unzählbar vielen mit jeweils eigenen Naturgesetzen und physikalischen Konstanten. Sie alle sind Produkte von Quantenfluktuationen in einem Vakuum, das nicht leer ist, sondern voller Energie. Aus den meisten Welten in diesem Gebrodel des Quantenschaums wird nichts, weil die Parameter keine Stabilität zulassen. Einige wenige aber, im Grenzfall nur das unsrige, haben überdauert und enthalten eben die Bedingungen, die zur Entstehung von Leben geführt haben.

 

 

Das anthropische Prinzip ist nicht so zu verstehen, dass sich die Welt immer nur lebensfreundlich entwickelt hat. Sechsmal gab es im Laufe der Erdgeschichte Katastrophen, bei denen die Erde nur knapp mit dem Leben davonkam. Mal war der Erdball von einem kompletten Eispanzer bedeckt, mal verdunkelte extremer Vulkanismus Äonen lang die Atmosphäre, mal löschte ein Asteroideneinschlag die halbe Tierwelt aus. Auch die Frühmenschen wären fast ausgestorben: vor 120 000 Jahren durch eine extreme Dürre, vor 74 000 Jahren durch den Vulkan Toba auf Sumatra, der die Temperatur weltweit um 18 °C stürzen ließ.

Unsere heutige Existenz ist ein unvergleichlicher Glückstreffer. Das wird noch deutlicher, wenn wir die Reihe unserer Vorfahren einbeziehen. Wir sind die Überlebenden am vorläufigen Endpunkt von brüchigen Schicksalsketten, während ungezählte andere Schicksale, Gemeinschaften und Kulturen untergingen. Viele Einzelleben haben sich durch quälende Notzeiten, Kriege und Katastrophen hindurchgewunden und uns ein Dasein ermöglicht, das nicht unser Verdienst, sondern ein Geschenk ist.

Mit diesem Geschenk verbindet sich eine Aufgabe an uns Heutige, die bei der Diskussion um das anthropische Prinzip gern übersehen wird. Denn in seiner allgemein akzeptierten Form gilt das Prinzip seiner Eigenlogik nach nur bis zum jetzigen Zeitpunkt, wo wir es erkennen.
Die Bedingungen, die unsere Existenz bis heute ermöglicht haben, sind keineswegs für die Zukunft garantiert! Nichts spricht dafür, dass die Glückssträhne anhält und dass der Würfel auch beim 1 000. Wurf wieder eine 6 zeigt. Vielmehr ist mit der Erkenntnis der Zusammenhänge unsere Verantwortung für die Zukunft verbunden, zumal der Mensch mehr denn je in die Natur eingreift.

Glücklicherweise stehen wir den Unbilden der Natur nicht mehr so hilflos gegenüber wie die Menschen der Vorzeit, sondern verfügen über Wissen und Mittel in Technik und Medizin; sogar einen künftigen Asteroideneinschlag können wir unwahrscheinlicher machen. Unglücklicherweise stehen Uneinsichtigkeit, Bequemlichkeit, Egoismus und Eskalation politischer Differenzen globalen Lösungen im Wege. Es geht um das Klima, soweit es von Menschen beeinflusst werden kann, es geht um den Sauerstoff der Atmosphäre, dessen Nachschub auf Pflanzen angewiesen ist, es geht um die Vielfalt der Arten, die täglich um 150 abnimmt. Der Müll auf der Erde, in den Ozeanen und im Weltraum nimmt zu, Ressourcen wie Trinkwasser werden knapp, in Zusammenhang mit Überbevölkerung und ungerechter Verteilung.
Zu allem Überfluss zerstören sich Menschen gegenseitig ihre kulturellen Schätze, untergraben mit Desinformationen notwendiges Wissen, säen Hass und leisten sich atavistische Kriege mit dem Risiko der totalen Auslöschung.

Mit der Endlichkeit des anthropischen Prinzips gerät das Thema aus dem Elfenbeinturm wissenschaftlicher Diskurse mitten in das Leben und Erleben jedes einzelnen Menschen. Vielleicht können wir gemeinsam beweisen, dass der Homo sapiens sapiens seine Bezeichnung zu Recht trägt.

Näheres hierzu und Quellenangaben s. Kap. 33 in „Die zweite Entstehung der Welt“.

 

Über das Buch

Die Folgen von Desinformationen zeigen: Es ist nicht selbstverständlich, dass wir eine gemeinsame Weltsicht haben. Jeder Mensch entwickelt ein individuelles Bild von sich und der Welt. Dieser Prozess beginnt schon vor der Geburt und setzt sich bis ins Alter fort. Aus dieser wahrnehmungspsychologischen Einsicht folgt, dass die Bildung von Gemeinschaft und Gemeinsamkeit als permanente Aufgabe begriffen werden muss. Das Buch analysiert nicht nur die anthropologische und soziale Grundsituation, sondern enthält auch konkrete Beiträge zur Lösung drängender Probleme. In 45 Kapiteln werden Fragen behandelt wie: Nimmt jeder die Welt anders wahr? Sexualität – haben wir eine Wahl? Meine Welt – ein Hirngespinst? Sind alle Weltbilder gleich wahr? Was verbindet uns? Hat der Mensch einen freien Willen? Welche Bedeutung hat das Bewusstsein? Bei aller Tiefgründigkeit bleibt das Buch allgemeinverständlich und wird durch zahlreiche Anekdoten aufgelockert. Über 150 Abbildungen bereichern den Text.

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Zum Autor

Max J. Kobbert studierte in Münster Psychologie, Philosophie und Naturwissenschaften mit dem Abschluss als Diplompsychologe. 1976 promovierte er über bewusste und nicht bewusste Prozesse der visuellen Wahrnehmung. An den Universitäten Münster und Regensburg war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter in Forschung und Lehre in Allgemeiner Psychologie und Rehabilitationspsychologie tätig. Ab 1978 arbeitete er als Professor für Wahrnehmungs- und Kunstpsychologie an der heutigen Kunstakademie Münster, zusätzlich seit 1982 an der FH Münster im FB Design. Emeritierung 2009. Zu seinen außerberuflichen Interessen gehört das Sammeln von Bernsteininklusen und von antikem Spielmaterial. Er ist selbst Autor mehrerer Spiele. „Das verrückte Labyrinth“ wurde zum Welterfolg.

 

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