Das Buch Das europäische Ich versucht dem Problem einer Identität des Ichs interdisziplinär auf den Grund zu gehen: Der Geschichte seiner seit dem 13. Jahrhundert von der christlichen Kirche behaupteten Identität und unsterblichen Seele werden Geschichten der europäischen Literatur entgegengestellt, welche zeitlich parallel im deutlichen Kontrast dazu nur unstete und multiple Ichs kennt: ohne Identität – und nur als Beziehung zu einem Du und Wir.
„Das Individuum ist eine glänzende europäische Sackgasse.“ Martin Walser sagt es in seiner „Festrede über Hölderlin“ (1970), in der er bestreitet, dass Hölderlin ein Ich habe, oder „nur soweit, als es ihm von außen versichert wurde.“ Mit dieser Meinung hatte er in der wichtigen europäischen Literatur fast nur Nachfolger und Vorgänger, u.a. den schottischen Aufklärer David Hume, dessen kritischen Essay „Über die Unsterblichkeit der Seele“ (1777) die katholische Kirche prompt auf den Index setzte.
Robert Musils Romantitel „Der Mann ohne Eigenschaften“ (1952) dürfen wir auch als „Mensch ohne Eigenschaften“ lesen. Und die „Eigenschaften“ sind es, die – wenn auch als Illusion – noch ein lebensfähiges menschliches Ich bilden und die – wenn auch oft begrenzt – noch eine gewisse Freiheit des Denkens gewähren. Ein Übermaß an Eigenschaften lässt jedoch den letzten freien Gedanken zur Überzeugung erstarren. Und „Überzeugungen sind der beste Schutz vor dem Lebendig-Wahren“, sagt Max Frisch in seinem „Tagebuch 1946–49“ (1986). Das Ich wird damit zum Gläubigen im Schutz (oder Gefängnis?) der (möglichst fensterlosen) „festen Burg“, die „unser Gott ist“ und von der Martin Luthers Lied erzählt.
In europäischen Medien und Besuchen von Diplomaten in Europa fernen Ländern und Kulturen ist oft die Rede von den so genannten Menschenrechten und Werten, die – so weiß man – mit der christlichen Kultur verbunden sind. In der zunehmenden außereuropäischen Kritik an einer Überheblichkeit des Westens, mit den von einer Ich-Identität abgeleiteten Werten den Rest der Welt missionieren zu wollen, finden wir u.a. die Hinweise des Philosophen und Bioethikers Godfrey Tangwa (Universität Yaounde, Kamerun): Es sei ein Merkmal der westlichen Ethik zu glauben, sie funktioniere losgelöst von den Glaubenssätzen und Bräuchen ihrer Gesellschaft. „In Afrika stehe das Zusammengehörigkeitsgefühl im Zentrum – nicht wie im Westen das Individuum.“
Europäisch-christliche Überzeugungen von der Identität des Ichs und den davon abgeleiteten Menschenrechten aber haben eine Geschichte von mehr als 800 Jahren. Im Jahre 1215 wird durch Papst Innozenz III. die individuelle Ohrenbeichte als Dogma eingeführt und durch die Jahrhunderte bis heute die Idee des Individuums und seiner individuellen unsterblichen Seele vertreten – und dies auch mit begleitenden und säkularen Folgen; dazu gehört auch die Einführung der Zeit als Ordnungsfaktor. Die spätere Ideologie des Fortschritts ist eine Folge des eschatologischen Denkens, welches linear auf die Wiederkehr Christi und das Jüngste Gericht abzielt, wohingegen in den Verhaltensweisen und Sprachen der so genannten Wir-Kulturen für die Zeit differenzierende Vokabeln wie Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft und Werte wie Pünktlichkeit und Eile Fremdworte waren und oft noch sind.
Doch zeitlich fast parallel zu den von der christlichen Kirche vertretenen und dann im Extrem noch durch die „Heilige Inquisition“ geforderten Glaubenssätzen beginnt im Kontrast dazu eine bis in die Gegenwart reichende Tradition europäischer Literatur und Kunst, welche im „Zweifel“ die Freiheit des Denkens vertritt. In den Jahren 1200–1210 verfaßt der Dichter Wolfram von Eschenbach sein Epos „Parzival“ (1200/1210). Es beginnt mit der Zeile: „Ist zwîvel herzen nachgebûr, daz muoz der sêle werden sûr“: Frei übersetzt: „Die aus beständigem Zweifel entstehende Freiheit des Denkens muß das Gemüt belasten.“ Diese Belastung zeigt sich bei vielen europäischen Romanciers und Dichtern fast lebenslänglich dann als Angst und Melancholie. Das Kapitel des Buches „Melancholie oder die gefährliche Einsamkeit des Denkens“ handelt von Autoren wie Shakespeare, Carlos Fuentes, Franz Kafka, Peter Sloterdijk u. a. m.
Die in deren Werken manchmal deutlich werdenden Zweifel an der Vergangenheit und ihren Traditionen – bis in die Herabstufung zu bloßem Rohmaterial der Selbstformung – bedeuten, dass Menschen sich offenbar selbst frei „erfinden“ müssen. Heute steht freilich die „Freiheit des Individuums“ als schützenswert in den nationalen Verfassungen demokratischer Länder. Tatsächlich aber handelt es sich dort um eine verfasste Freiheit: Innerhalb der Rechte, Pflichten und Gewohnheiten und Traditionen, die ungeachtet der Trennung von Staat und Kirche immerhin weiter von der christlichen Kirche garantiert werden, als Hüterin einschlägiger moralischer Traditionen.
Eines der abschließenden Kapitel des Buches hat den Titel „Späte Erkenntnisse der Naturwissenschaften“. Der Verdacht, kein in sich identisches Ich zu haben, beschränkt sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend nicht mehr auf Autoren des Romans und der lyrischen Dichtung. In der Folge ist es dann eine mit den Namen von Max Planck und Werner Heisenberg verbundene zweite Revolution der Naturwissenschaften, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Auflösung typisch europäischer und seit Newton und Descartes zementierter Dichotomien führt. Es sind Geist und Natur (Descartes’ res cogitans und res extensa), Subjekt und Objekt, aus deren Distanz so genannte Objektivität und eine europäische Illusion entstanden war, welche analog einem in sich identischen Ich Literatur und Kunst nicht teilen konnten. Nun ist Bewusstsein jedoch nichts Anderes als Gegenstandsbezug. Denn „cogito ergo est“: „Was gedacht wird, ist. Was ist, wird gedacht. Ich reise vom Geist zur Materie. Ich kehre aus der Materie zum Geist zurück.“ So sagt es Don Quijote als Alter Ego des Autors Carlos Fuentes in seinem Roman „Terra nostra“ (1975/1999).
Personalität ist nichts Konstantes, obgleich unsere Gesellschaft ihrer zu Ordnungszwecken bedarf, mit Namen und festem Wohnsitz. Im Kapitel des Buches mit dem Titel „Name und Haus: Die Bedingungen des Ichs in der Ich- und Wir-Kultur“ ist die Rede von gewissen Indianerstämmen am Amazonas, bei denen sich Namen mit verändertem Umfeld und Wechselbeziehungen verändern können. Der Philosoph George Berkeley in seiner Abhandlung „A Treatise concerning the Principles of Human Knowledge“ (1710) spricht zwar schon von einem „Esse est percipi“ (Sein ist Wahrnehmen). Aber erst 200 Jahre später glauben Physiker in der Quantenmechanik nachweisen zu können, dass die Welt in all ihren Eigenschaften nicht unabhängig von uns existieren könne. Und wenn sie so genannte verschränkte Zustände von Subjekt und Objekt erklären als die Überlagerung von etwas was da ist und gleichzeitig nicht da ist, geraten sie in den Bereich der japanischen Zen-Philosophie. Und der europäische Roman versucht schon seit Jahrhunderten, in einer multidimensionalen Sprache eine Diskontinuität als Kontinuität zu erzählen.
Ganze 18 Jahre seines Lebens arbeitet der ungarische Autor Péter Nádas an den 1732 Seiten seines Romans „Parallelgeschichten“ (deutsch 2012) und beschreibt sein Buch als eine Kontinuität der Diskontinuität: „Das Leben ist ein Fluss, und in diesem Fluss sind wir orientierungslos. Wir lügen uns eine Orientierung und eine Organisation herbei, um uns nicht diesem Chaos zu übergeben.“ (2012, Interview für das Magazin Cicero). Wie vor ihm schon Autoren wie Grimmelshausen, Jean Paul, Marcel Proust, Robert Musil und andere, braucht er eine Art auto-poiesis, lebenslängliche Selbsterschaffung durch Sprache. Schon Jean Paul scheiterte an seinem Vorhaben einer „Selberlebensbeschreibung“, welche eine Kontinuität des Erzählens verlangt hätte.
Auch die Naturwissenschaft weiß jedoch inzwischen: Wir sind Teil der Dinge, die wir betrachten, denn diese entstehen als Bilder in unserem Kopf und verändern sich mit der Perspektive der Betrachtung. Sprache kann folglich ihren Gegenstand immer nur umschreibend beschreiben, so wie es der arabische Dichter Adonis für die Benennung einer Teetasse vorschlug: „Die einzige so genannte Realität ist das Verhältnis zwischen dir und den Dingen.“ Worte sind demnach ihrem Wesen nach Metaphern, welche dieses Verhältnis zu umschreiben versuchen.
„Eine Kontinuität der Diskontinuität“, so beschreibt Péter Nádas sein Buch „Parallelgeschichten“, Iris Radisch spricht anläßlich seines Erscheinens 2012 von einer „Ästhetik des Hypertextes“. Und zur Bedeutung der Ichlosigkeit und der Ich-Illusion bezieht sich der Romancier auf ein Ich, das nicht mehr sei „als ein Bündel von Eigenschaften, und das reichhaltige Angebot ist nach Wunsch und Bedarf verwendbar“ (ebd.). Der Preis für die Freiheit des Denkens ist freilich die Angst und zugleich die Verlockung, mit dem Ich auch das physische Leben zu verlieren. Davor kann auch ein „paradis artificiel“ (Baudelaire) nicht schützen. 2002 erscheint von Péter Nádas das Buch „Der eigene Tod“, in dem er eine Nahtod-Erfahrung beschreibt.
Das Schlusskapitel des Buches mit dem Titel „Das europäische Ich heute und Morgen“ handelt zeitlos und zeitgemäß „Vom demokratischen Ende der Demokratie und warum das angstvolle Tier homo sapiens wieder einmal den Schutz der Herde und einen Führer sucht“. Die europäische Ich-Illusion bedarf zu ihrer Sicherung der Aufhebung im Sozialen, denn es zerfallen seine sozialen Sicherungen, und dies nicht erst im 20. Jahrhundert. Die christliche Kirche kann heute allenfalls noch Minderheiten eine Geborgenheit bieten; eine sozialistische Lösung hatte und hat die Tendenz, sich weltweit in Diktatur zu verwandeln. Dort ist es dann schon im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung Sokrates, dem man wegen seinen von der Mehrheit abweichenden Meinungen den todbringenden Schierlingsbecher anbietet, analog heutigen Journalisten in den Diktaturen Putins, Erdogans etc. Dass Ergebnisse von Plebisziten kaum aus dem Denken und einer Problemanalyse entstehen, ist ebenfalls und offenbar eine anthropologische Konstante. Die Beweggründe für die Meinung der Mehrheit entstehen allzu oft aus Emotionen und aus von Populisten durch Lügen geförderten Vorurteilen.
Doch was uns späten Europäern als Chance bleibt, ist immer noch das Du eines Lebenspartners, die Beziehung zu unseren Kindern und Freunden. Und – last but not least – die Träume von Dichtern und Romanciers, denen es gelingt, das unauflösbare Chaos und die bedrohliche Sinnlosigkeit des Lebens in eine aus der Freiheit des Denkens entstandene mehrdimensionale Sprache zu formen und in Parallelgeschichten oder Gedichten zu erzählen.
Zum Buch: »Das europäische Ich« von Ulrich Merkel
Seit 800 Jahren zweifeln europäische Dichter an der Identität des Ichs: Schon Wolframs „Parzival“ ist als „Mensch ohne Eigenschaften“ auf der Suche nach dem Selbst und sein Ziel eine Illusion. Durch Zufälle und seine Beziehungen ständig verändert hat das Ich von da an niemals eine lineare Geschichte, sondern wird in Geschichten erzählt. Die Kirche hingegen fördert und überwacht seine Identität als Einheit von Leib und Seele. Erst nach 1900 zweifelt auch die Wissenschaft und entdeckt im christlichen und cartesischen Dualismus ein kreatives „Zwischen“. Dichter schreiben dann Hypertexte, während Bürger wieder einmal von nostalgischen Utopien träumen, die heute Sicherheit, Leitkultur, Nation und Heimat heißen. Bleibt am Ende, mit den Worten Hilde Domins, „nur eine Rose als Stütze“? Ulrich Merkel erforscht in diesem Band interdisziplinär eine Geschichte des europäischen Ichs, im Vergleich mit den Geschichten der Literatur.
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Zum Autor des Beitrags
Ulrich Merkel, Germanist und Kulturwissenschaftler, war Leiter von Goethe-Instituten in vier Kontinenten. Er lehrte an den Universitäten Aix-en-Provence, München und Berlin und veröffentlichte Publikationen zur Literatur und Kultur im In- und Ausland.