Der Zeithistoriker Alex J. Kay im Interview mit wbg-Lektor Daniel Zimmermann
Rund 13 Millionen Zivilisten ermordeten die Nationalsozialisten zwischen 1939 und 1945. Neben Juden fielen tausende behinderte Menschen, Roma, Sinti, Rotarmisten, polnische Eliten und politische Dissidenten dem staatlich geplanten Massenmord zum Opfer. Der britische Historiker Alex J. Kay liefert nun mit »Das Reich der Vernichtung« eine umfassende Analyse des Ausmaßes der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Im Interview mit wbg-Lektor Daniel Zimmermann erläutert der Autor seine Arbeit.
Daniel Zimmermann: Lieber Herr Kay, in den täglichen offiziellen Verlautbarungen aus der Ukraine heute, 2022, wird immer wieder betont, dass auch im Krieg Regeln gelten und die Schuldigen am Tod unbeteiligter Zivilisten zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Sie haben nun eine Gesamtgeschichte des Massenmords der Nationalsozialisten an „Zivilisten und anderen Nichtkombattanten“ geschrieben. Wie definieren Sie ‚zivile Opfer‘?
Alex J. Kay: Zivile Opfer, also Zivilisten gehören nicht den feindlichen Streitkräften an, sind unbewaffnet und somit zumeist wehrlos. Zu den Nichtkombattanten gehören ebenfalls jene Angehörige der feindlichen Streitkräfte, die gefangengenommen und entwaffnet und somit auch wehrlos sind. Zivilisten und andere Nichtkombattanten unterliegen in Kriegszeiten dem Schutz des internationalen Völkerrechts. Das ist die Definition, die der von mir geschriebene Gesamtgeschichte des nationalsozialistischen Massenmord zugrundeliegt.
Daniel Zimmermann: Wenn wir Deutsche an zivile Opfer des Nationalsozialismus denken, denken wir in allererster Linie an die ermordeten europäischen Juden und können auch eine ungefähre Opferzahl von 6 Millionen nennen. Wissen Sie im Kopf, wie viele Zivilisten in der Sowjetunion ums Leben kamen?
Alex J. Kay: Ich weiß im Kopf, dass sich die Gesamtzahl der sowjetischen Toten im Krieg mit Deutschland zwischen 1941 und 1945 auf schwindelerregende 26,6 Millionen Menschen beläuft. Ich weiß ebenfalls im Kopf, dass die Mehrzahl der sowjetischen Kriegstoten – mehr als 15 Millionen Menschen – Zivilpersonen und unbewaffnete gefangene Soldaten war. Was diese Zahlen angeht, sind sich britische, deutsche und russische Experten einig. Neben zwei Millionen verhungerten Einwohnern sowjetischer Städte und 3,3 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen ermordeten deutsche Kräfte mindestens 17 000 Psychiatriepatienten, 2,6 Millionen Juden, 30 000 Roma und bei sogenannten Anti-Partisanen Operationen bis zu 600 000 auf dem Land lebende Zivilpersonen. Mehr als sechs Millionen weitere sowjetische Zivilisten starben direkt oder indirekt am Krieg infolge von Hunger in ländlichen und kleinstädtischen Umgebungen und hinter der sowjetischen Front, aufgrund der von der Wehrmacht bei ihrem Rückzug nach Westen praktizierten Taktik der verbrannten Erde, durch deutsche Bombenangriffe und militärische Kampfhandlungen, weil sie hinter den deutschen Linien von sowjetischen Partisanen ermordet wurden, und als Folge der Verbrechen, die das stalinistische Regime am eigenen Volk beging. Die durch den Krieg verursachte Erhöhung der Sterblichkeit unter Flüchtlingen und Evakuierten war beträchtlich, obwohl einige der umfassenderen Folgewirkungen der deutschen Invasion schwer zu rekonstruieren und einzuschätzen sind.
Daniel Zimmermann: Wie exakt oder wie unsicher sind die Opferzahlen, von denen wir wissen? Gibt es da auch Dunkelfelder?
Alex J. Kay: Die Zahlen, die ich in meinem Buch präsentiere, sind recht zuverlässig. Sie basieren auf einem breiten Spektrum an Quellen und Forschungsarbeiten in mehreren Sprachen. Dennoch gibt es Grund zu der Annahme, dass die Angaben in den von einigen deutschen Einheiten übermittelten zahlenmäßigen Aufstellungen tendenziell eher zu niedrig als zu hoch waren. Kurz, weitere Forschungsarbeiten, beispielweise über die in den besetzten Gebieten der Sowjetunion ermordeten Psychiatriepatienten könnten durchaus ergeben, dass die Zahl der von den Nationalsozialisten ermordeten Zivilisten und anderen Nichtkombattanten noch höher war. Die 13 Millionen Zivilisten und anderen Nichtkombattanten, die von den Nationalsozialisten in wohlüberlegten Massenmordkampagnen getötet wurden, sollte man daher als Mindestwert betrachten.
Daniel Zimmermann: Herr Kay, ihre These ist, dass es einen grundlegenden, einen kausalen Zusammenhang gibt zwischen der nationalsozialistischen Kriegführung und den Massenmordprogrammen. Können Sie dies erläutern?
Alex J. Kay: Es ist kein Zufall, dass die sieben großen nationalsozialistischen Mordprogramme durchweg während der Kriegsjahre abliefen. Das den verschiedenen Opfergruppen Gemeinsame ist eng verknüpft mit dem militärischen Konflikt. Während jedes der Mordprogramme eine je eigene rassische Komponente besaß, war die Logik des Krieges von zentraler Bedeutung für das Grundprinzip, jede einzelne der Opfergruppen ins Visier zu nehmen, denn auf die eine oder andere Weise galten sie alle dem NS-Regime als potenzielle Bedrohung für Deutschlands Fähigkeit, einen Krieg um die Hegemonie in Europa führen und am Ende gewinnen zu können. Diese Sichtweise war durchdrungen vom und wurde gerechtfertigt mit dem nationalsozialistischen Rassedenken, sodass es schwierig, wenn nicht unmöglich ist, die deutsche Kriegsstrategie von der völkermörderischen NS-Rassenpolitik zu trennen. Man könnte sogar so weit gehen zu behaupten, dass im Falle des Deutschen Reiches der Genozid selbst und die Massenmordpolitik im Allgemeinen eine Form der Kriegführung darstellten.
Den Behinderten in Deutschland wurde unterstellt, dass sie die Gesundheit und Lebenskraft der deutschen Nation in Kriegszeiten schwächten, während die Behinderten in den besetzten Gebieten als lästige Konkurrenten um Nahrung und Unterkunft betrachtet wurden; die polnische Führungsschicht und die polnischen Eliten wurden in ihrer Eigenschaft als Säulen der polnischen nationalen Identität und potenzielle Anlaufstellen für den Widerstand gegen das deutsche Besatzungsregime ermordet; als angebliche Anführer und Revolutionäre, die hinter den Kulissen die Faden zogen, galten Juden allerorten als Bedrohung für die schiere Existenz des deutschen Volkes; sowjetische Kriegsgefangene und Stadtbewohner wurden als direkte Konkurrenten deutscher Soldaten und der deutschen Heimatfront um kostbare Nahrungsreserven betrachtet; ländliche Bevölkerungsgruppen in Ost- und Sudosteuropa standen im Verdacht, Partisanen zu unterstützen und zu begünstigen; Roma – egal ob sie ein Wanderleben führten oder sesshaft waren – galten als potenzielle Spione und genereller Destabilisierungsfaktor hinter den deutschen Linien. Allein in Anbetracht dieser Verflechtung von Krieg und Vernichtung erscheint es außerordentlich sinnvoll, die verschiedenen Stränge des nationalsozialistischen Massenmords zusammen statt isoliert voneinander zu betrachten.
Daniel Zimmermann: Saul Friedländer meinte, „Der absolute Charakter der antijüdischen Kampagne der Nationalsozialisten macht es unmöglich, die Vernichtung der Juden in den allgemeinen Bezugsrahmen der nationalsozialistischen Verfolgungen einzuordnen.“ In einer Gesamtdarstellung des nationalsozialistischen Massenmords jüdische Opfer des Holocaust und andere zivile Opfer zusammen zu betrachten wird Diskussionen hervorrufen. Was können Sie dem entgegnen?
Alex J. Kay: Den Genozid an den europäischen Juden parallel zu anderen nationalsozialistischen Massenmordkampagnen zu untersuchen bedeutet natürlich, einem Großteil der Forschung zum Thema zuwiderzuhandeln. Sich dem nationalsozialistischen Massenmord mit einem integrativen Ansatz zu nähern widerspricht aber keineswegs der – auch von mir in diesem Buch vertretenen – Sichtweise, dass der Holocaust, nicht zuletzt in seinem flächendeckenden und systematischen Charakter, ein absolut beispielloses Phänomen war. Man kann aber durchaus die These vertreten, dass der Holocaust beispiellos war, und ihn gleichzeitig als Teil eines vom NS-Regime betriebenen umfassenderen Prozesses demografischer Rekonstruktion und rassischer Reinigung betrachten. Dieser Prozess fand zuerst in Deutschland selbst statt und dann, als der Krieg fortschritt und das NS-Imperium sich ausdehnte, in jedem einzelnen der von deutschen Truppen besetzten Gebiete.
Daniel Zimmermann: Die Wannseekonferenz bei Potsdam gilt als symbolischer Beginn des Holocaust. Sie sind Brite, wurden 1979 geboren und lehren heute an der Professur Militärgeschichte / Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam. Was bedeutet es für Sie persönlich, in Potsdam zu forschen und zu arbeiten?
Alex J. Kay: Es bedeutet, dass die Spuren der Geschichte, über die ich unterrichte und schreibe, in vielen Fällen überall um mich herum und oft noch sichtbar sind. Das gilt natürlich nicht zuletzt für das Haus, in dem die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 stattfand. Zu jenem Zeitpunkt hatte der Holocaust zwar schon begonnen, aber diese Konferenz machte den Weg frei, damit der Massenmord an den Juden in den verschiedenen deutsch besetzten Gebieten auf eine zentralisierte, gesamteuropäische Basis gestellt werden konnte. Das Haus ist erhalten geblieben. Auch ein Teil der Gebäude des Alten Zuchthauses im nahegelegenen Brandenburg an der Havel, wo Anfang 1940 im Rahmen der T4-Morde an behinderten Menschen das erste funktionsfähige Tötungszentrum der Geschichte entstand, steht bis heute. Die Aktion T4 hatte seine Planungszentrale wiederum in der Tiergartenstraße 4 in der Reichshauptstadt Berlin. Das Gebäude wurde zwar im Krieg schwer beschädigt und später abgerissen. Heute befindet sich aber dort ein Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde. Gebäudereste auf dem Prinz-Albrecht-Gelände in Berlin-Kreuzberg, dem damaligen Hauptquartier der Geheimen Staatspolizei, sind als Teil des Ausstellungsorts Topographie des Terrors öffentlich zugänglich. In Deutschland überhaupt und im Großraum Berlin insbesondere sind die Spuren dieser furchtbaren Geschichte also bis heute noch zu sehen.
Daniel Zimmermann: Lieber Alex Kay, ich danke ganz herzlich für diese Gespräch!
Titelbild: © Henning Langenheim / akg-images
Über das Buch »Das Reich der Vernichtung«
Von 1939 bis 1945 ermordete das nationalsozialistische Regime rund 13 Millionen Zivilisten und andere Nichtkombattanten in Vernichtungslagern und außerhalb davon. Fast die Hälfte der Opfer des Nationalsozialismus waren Juden. Die Judenverfolgung und die Shoah sind in der Geschichte ohne Beispiel, aber als Teil eines systematischen Massenmordprogramms zu betrachten. Zu den Opfern der NS-Verbrechen gehörten auch Behinderte, Roma, polnische Eliten, gefangene Rotarmisten und unbewaffnete Zivilisten. Erstmals führt Alex J. Kay die systematischen Mordprogramme und ihre Opfer in einer differenzierten Darstellung der deutschen Kriegsverbrechen zusammen. Es wird deutlich, dass Genozid und Vergeltungsmaßnahmen integrativer Bestandteil der Kriegsstrategie zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Ideologie waren. In seiner bahnbrechenden Analyse zeigt er, wie eine strategisch geplante, staatliche Politik des Massenmords Millionen von Menschen das Leben kostete. Eine unersetzliche Ergänzung ihrer Bibliothek historischer Bücher über Deutschlands dunkelste Zeit von 1933 bis 1945!
Weiterführende Links
Mehr Bücher zur Zeitgeschichte
Podcast mit Alex J. Kay: »Was war das Reich der Vernichtung?«
Gespräch mit Alex J. Kay am 25.01.2023 in Gießen
Zu den Beteiligten
Alex J. Kay ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut der Universität Potsdam, seit 2022 Habilitationsstipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft und wurde 2016 zum Fellow auf Lebenszeit der Royal Historical Society gewählt. Er hat fünf hochangesehene Bücher über das nationalsozialistische Deutschland veröffentlicht, darunter »The Making of an SS Killer« und zuletzt das preisgekrönte »Empire of Destruction: A History of Nazi Mass Killing«.
Daniel Zimmermann lebt in Mainz und ist Programmmanager im wbg-Lektorat Geschichte. Dort ist er zuständig für die Programme wbg Theiss, wbg Edition, wbg Academic und wbg Zabern.