Das sokratische Mahl. Zwei Studien zu Kant

I. Zu Tisch bei Kant oder die Begründung der Moral

Legendär sind Kants Tischgesellschaften. Darüber, über die Mahlzeit, hat er eine Philosophie verfasst. Sie hat er aufgenommen in seine Ethik. Die Ethik untergliedert er, was zumeist übersehen wurde, in zwei Teile, welche mit „Moral“ und „Anthropologie“ überschrieben sind. Der erste Teil befasst sich mit der Aufsuchung und Festsetzung der obersten Grundsätze der Moral. Er gipfelt in der Formulierung des „Kategorischen Imperativs“. Was Moralität ist, wird „rein“ entwickelt, das heißt: ohne Rücksicht darauf, ob die damit verbundenen Sollensvorschriften auch eingelöst werden können. Das hat Kant den Vorwurf des Rigorismus eingetragen, was aber ein arges Missverständnis ist, denn gefragt wird zunächst lediglich nach einer Bestimmung der moralischen Handlung, und das geschieht methodisch so, dass von sonstigen Handlungsmotiven wie Selbstsucht oder Eigenliebe abgesehen wird.

Wie es mit der Umsetzung der moralischen Forderungen bestellt ist, danach fragt der zweite Teil der Ethik. Dazu erklärt Kant, dass „alle Moral […] zu ihrer Anwendung der Anthropologie bedarf“. Er setzt sich damit auseinander, was die Menschen daran hindert, die in der Vernunft begründeten Gebote der Moral zu befolgen – das geht bis ins Psychopathologische. Er erörtert aber auch, wie man Menschen dazu bringt, das Gute zu tun. Das geschieht durch die Formung und Modellierung des Verhaltens. Die Selbstsucht der Triebe und Leidenschaften muss niedergehalten werden, und dazu verhelfen Konventionen und Benimmregeln. „Gesittet“ ist noch nicht „sittlich gut“, erklärt Kant. Aber die „Versittlichung“ ist doch ein Schritt hin zur Moralität, und Kant kennt Vorstufen und Übergänge zur eigentlichen Moral. Während also der erste Teil der Ethik eine theoretische Begründung erbringt, wendet sich der zweite Teil der Praxis zu. Hier geht es auch um ganz alltägliche Probleme, um Fragen der Lebensgestaltung und des Umgangs mit Menschen. Kant untersucht Formen der Geselligkeit, und in der guten Mahlzeit, die sich an bestimmte Regeln halten und bei der sich schmackhaftes Essen mit einem anregenden Gespräch verbinden muss, findet er die „wahre Humanität“, weil beide Seiten des Menschen zu ihrem Recht kommen, die leiblich-sinnliche und die geistig-moralische.

 

II. Der Newton des Grashalms – Zu Kants Konzeption der Naturphilosophie

Um sichere Erkenntnisse zu erlangen, müssen nicht wir uns nach den Dingen richten, sondern diese nach uns, erklärt Kant. Auf dieser „Umänderung der Denkart“ beruhe der Erfolg der neueren Naturwissenschaft. Umgesetzt werde dieses Konzept mit einer bestimmten Verfahrensweise, mit der des Experiments. Dabei werde wie bei einem Verhör vor Gericht die Natur als Zeuge vernommen. Entsprechend gehe die Wissenschaft mit bestimmten Fragen an die Natur heran und zwinge sie, diese zu beantworten. Die Untersuchungen lassen sich also von Vorgaben leiten, und Kant geht nun hinter die Forschung zurück, um diese Prämissen offenzulegen. Sie identifiziert er als die im Verstand bereitliegenden Formen des Denkens, als die reinen, apriorischen Verstandesbegriffe oder Kategorien. Sie legen die Hinsichten fest, unter denen wir die Dinge betrachten. Was sie unabhängig davon sind, was das „Ding an sich“ ist, bleibt uns verborgen. Aus den reinen Verstandesbegriffen leitet Kant die allgemeinen Prinzipien, von ihm „Grundsätze“ genannt, ab, nach denen sich die Wissenschaft richtet. Damit erbringt er eine Begründung der mechanistischen Physik und der exakten, mathematisierten Wissenschaft.

Aber Kant bleibt dabei nicht stehen. Er zeigt, dass die Rückführung der Naturerscheinungen auf physikalische Gesetze einen Teil der Wirklichkeit nicht erreicht, den der belebten Natur, den der Formen und komplexen Gebilde, als deren Grundbestimmung sich das Prinzip der „Selbstorganisation“ erweist. Aus der Beschaffenheit des Organismus, aus seiner inneren Zweckmäßigkeit ergibt sich eine wesensmäßige Verwandtschaft zum Kunstwerk, und in der Frage nach der Gestalt und der Gestaltwerdung verbinden sich Ästhetik und Naturphilosophie. Bei der Erfassung dieser Vorgänge kommt man nicht aus ohne die Annahme, dass sie gelenkt werden durch Zielsetzungen und Pläne, und das bedeutet, dass in ihr Kräfte wirken, die eine Analogie aufweisen zum menschlichen Geist. Damit wird eine Denkweise rehabilitiert, die die neuzeitliche Wissenschaft gerade ausgeschlossen hatte, die der Teleologie. Die beiden sich scheinbar ausschließenden Ansichten sind nach Kant darauf zurückzuführen, dass die Natur keine objektive Gegebenheit ist. Was wir von ihr erkennen, ist abhängig von unterschiedlichen „Vermögen des Geistes“. Diese erschließen eine jeweils andere Dimension der Wirklichkeit. Dem Verstande öffnet sich die Welt der physikalischen Gesetze, der Urteilskraft die der biologischen Gestalten.

 

Über das Buch

Ein Buch über Kant, das sich nicht ans Übliche hält. Es beginnt mit Kants Freude am Essen und gewinnt einen Zugang zu Seiten von Kants Denken, die wenig Beachtung gefunden haben. Das ist in Bezug auf die Moral die Bedeutung der Geselligkeit und der Umgangsformen; das ist in Bezug auf die Natur die Bedeutung des Organischen, der Gestaltwerdung und des Schönen.

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Zu den Beteiligten

Dr. Kurt-Heinz Weber, geb. 1942 in Naumburg an der Saale, studierte Philosophie, Germanistik und ev. Theologie in Bonn und Tübingen. Weber promovierte mit einer Dissertation über Soeren Kierkegaard Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter in Tübingen und lehrte an Düsseldorfer Schulen.

 

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