Das „Vierte Reich“: hat es nie gegeben, wird es nie geben – oder ist es längst da?
Interview von Daniel Zimmermann (wbg) mit Gavriel Rosenfeld (Autor von "Das Vierte Reich")
Das Vierte Reich ist das Reich des Friedens. Es fühlt sich bewusst als ein
europäisches Reich. Es wünscht tatkräftiges Mitglied eines Völkerbundes
zu sein, in dem alle Völker der Erde in demokratischer Gleichberechtigung
zusammenarbeiten, um die Freiheit jeder einzelnen Nation gegen jeden
Friedensstörer zu verteidigen.
Georg Bernhard (1875-1944), »Entwurf einer Verfassung für das Vierte Reich« (1936)
D. Zimmermann: Lieber Herr Rosenfeld, wann und wo ist Ihnen in jüngster Zeit der Begriff des „Vierten Reiches“ zuletzt begegnet?
Gavriel Rosenfeld: Die neuesten Referenzen auf diesen Begriff sind im Zusammenhang mit der kommenden Netflix-Serie mit dem Titel "Hunters" aufgetaucht (produziert von Jordan Peele von "Get Out" und "Us"). Darin führt Al Pacino in der Hauptrolle eine bunte Truppe jüdischer und afroamerikanischer Nazi-Jäger an, die in den 1970er Jahren in New York City versuchten, eine Gruppe unbußfertiger Nazis zu fassen, die ein "Viertes Reich" in den USA errichten wollten. Mit anderen Worten, das Vierte Reich wird in der albtraumhaften Verkleidung einer Rückkehr der Nazis an die Macht beschworen.
D. Zimmermann: Interessanterweise entstand die Formulierung vom „Vierten Reich“ ja nicht in rechten, sondern eigentlich in linksoppositionellen Kreisen (sieht man einmal von politischen Witzen ab, die in Nazi-Deutschland hinter vorgehaltener Hand kursierten): 1936 entwarf der jüdischstämmige, demokratische Publizist Georg Bernhard im Pariser Exil den »Entwurf einer Verfassung für das Vierte Reich«. Wieso griff die demokratische Opposition auf den Begriff „Reich“ zurück?
Gavriel Rosenfeld: Antifaschistische Oppositionelle wollten in den 1930er Jahren die positive Idee eines Nachfolge-Reiches von Hitlers "Drittem" Reich propagieren, was die Umarmung der Zahl 4 erforderte, um dieser hoffnungsvollen Erwartung Nachdruck zu geben. Ursprünglich verband sich mit dem Begriff des „Vierten Reichs“ ein demokratisches, pazifistisches, post-nazistisches Deutschland. Es sollte sozusagen als Galvanisierungsdevise, als verbindendes Motto für verschiedene oppositionelle Gruppen dienen.
D. Zimmermann: Sie beschreiben in Ihrem Buch ja etwas, das nie existierte und auch nie existieren wird, was aber gleichwohl extrem virulent ist: Das „Vierte Reich“ taugt als Dystopie wie als Utopie gleichermaßen. Gibt es andere politische Ideen, die in gleicher Weise von links wie von rechts benutzt werden, die als Drohung wie als Verheißung funktionieren?
Gavriel Rosenfeld: Eine ‚Idee‘, die mir in den Sinn kommt, ist die der ‚Renaissance‘. Francesco Petrarca und andere wollten im 14. Jahrhundert im Wesentlichen Italien „wieder groß machen". Dazu griffen sie auf das Vorbild der der heroisch idealisierten klassischen Antike zurück. Sie taten dies aus einer nostalgischen, aber humanistischen Perspektive, ohne nationalistische Prahlerei. Donald Trump hingegen hat – wie zuvor in Europa auch Mussolini und Hitler - ebenfalls die Rückkehr zu einer entschwundenen Zeit gefordert, die jedoch deutlich ausschließend ist, weil sie auf einer eingeschränkten Sichtweise der nationalen Zugehörigkeit beruht. Es gibt andere Ideen, die politisch widersprüchlich auftreten können: "Revolution" kann beispielsweise in einer linken und einer rechten Version auftreten. Sogar die heutige Propagierung der ‚Mitte‘ wird heute sowohl von den Linken als auch von den Rechten betrieben, um das zu verurteilen, was sie jeweils als "anormal" betrachten.
D. Zimmermann: Angela Merkel wird immer wieder mit Hitler-Bart verunglimpft, mit Vorliebe in der britischen Presse. Gibt es ein ähnliche Verunglimpfungen für Politiker auch in den USA?
Gavriel Rosenfeld: Aber natürlich. das begann bereits mit Lyndon Johnson und Richard Nixon in den 1960er Jahren (von Seiten der Antikriegs-Linke), hat sich aber in den letzten Jahren deutlich intensiviert. Tatsächlich wurden seit 2000 alle US-Präsidenten – ob Bush, Obama oder Trump - mit Hitler-Schnurrbärten und Vergleichen mit dem Nazi-Diktator diffamiert.
D. Zimmermann: Deutschland wird von seinen europäischen Partnern zweierlei angelastet: Dass es die EU zu stark dominiert und gleichzeitig, dass es zu wenig Führung übernimmt. Darf die Bundesrepublik mehr leadership beanspruchen, oder wird sich dann der Widerstand gegen dieses durch seine Geschichte belastete Land noch verstärken?
Gavriel Rosenfeld: Die Aussicht, dass Deutschland eine größere Rolle in globalen Angelegenheiten übernehmen könnte, wird sicherlich von bestimmten Kritikern (sowohl von links als auch von rechts) mit Nazi-Vergleichen angegriffen werden. Aber ich nehme diese Kritiken nicht sehr ernst. Es gab eine Zeit, da hatte diese Form der Kritik ihre Grundlage in berechtigten Ängsten - sicherlich vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Wiedervereinigung. Heute, zumindest unter den Regierungen von Schröder und Merkel, sind sie ausschließlich tendenziös und bösartig. Dies gilt insbesondere für antideutsche Konservative in Großbritannien der Brexit-Ära und Anti-EU-Nationalisten in Putins Russland
D. Zimmermann: Lieber Herr Rosenfeld, Sie betrachten Deutschland von außen sehr genau, haben von 1989 bis 1990 und von 1993 bis 1994 auch hier gelebt: War die Angst des Auslands vor dem Rückfall Deutschlands in die Nazi-Barbarei jemals begründet?
Gavriel Rosenfeld: Als ich zur Zeit des Mauerfalls in Deutschland lebte, wurde Deutschland noch mit einer gewissen Angst betrachtet, weil die Wiedervereinigung noch so neu war. Es gab große wirtschaftliche Probleme und natürlich neonazistische Gewalt gegen Ausländer und in geringerem Maße auch gegen jüdische Institutionen (wie beim Anschlag in Lübeck). Aber ich persönlich habe schon damals nie eine wirkliche Rückkehr zum Nationalsozialismus befürchtet, da es einfach keine organisierte politische Bewegung gab, die in diese Richtung gehen wollte. Die Republikaner waren relativ schwach und hatten keinen nationalen Einfluss (im Gegensatz zur heutigen AfD!). Ich war eher vor sporadischer rechter Gewalt auf der Hut.
D. Zimmermann: Wenn Sie Deutschland heute betrachten und die Bewegungen am rechten Rand – Reichsbürger, Identitäre, AfD: Sind dies in Ihren Augen ernste, bedrohliche Entwicklungen, oder ganz normale Abweichungen in einer pluralen, demokratischen Gesellschaft?
Gavriel Rosenfeld: Ich denke, jede Bewegung, die versucht, das Konzept des „Vierten Reiches“ zu rehabilitieren, betreibt dieselbe Art von metaphysischer Politik wie die Nazis in den 1930er Jahren. Weil das „Vierte Reich“ ein so leerer Signifikant ist - wenn auch ein resonanter, evokativer - kann es leicht mit jedem beliebigen politischen Inhalt gefüllt werden. Wenn die gewöhnlichen Deutschen der Mitte jemals wieder anfangen, sich nach einem solchen Reich zu sehnen, wäre das ein Grund zur Sorge. Dafür sehe ich im Augenblick zum Glück aber keine Anzeichen. Das würde nur in einer Zeit verstärkter Kriseen geschehen. Aber angesichts der ‚tausendjährigen‘ Geschichte des Reiches in der deutschen Kultur und im deutschen Bewusstsein gibt es keinen Grund zu glauben, dass es notwendigerweise für immer vorbei ist. Wie beim Rechtsaktivismus im Allgemeinen muss man immer wachsam sein und „den Anfängen wehren". Ich hoffe, dass mein Buch die Menschen über die faszinierend-dämonische Geschichte des „Vierten Reiches“ aufklären kann.
D. Zimmermann: Lieber Gavriel Rosenfeld: Ich bedanke mich sehr für dieses Gespräch!