2021 jährt sich die Gründung des Deutsches Reiches zum 150. Mal. Bei runden Jubiläen schaut man gerne zurück. Das gilt im Großen wie im Kleinen. Meine erste persönliche Begegnung mit Bismarck hatte ich im Alter von acht Jahren, als ich durch die Bücher meines Großonkels Jack blätterte. Jack wohnte in Tallwood Station, einer abgeschiedenen Rinderfarm im australischen Outback, im trockenen, roten Norden von New South Wales.
Wieso mein Onkel, der seine zahlreichen Bismarck-Biographien nach eigenem Bekunden mit großer Freude gelesen hatte, so sehr an ihm interessiert war, weiß ich nicht. Vielleicht blickte Jack deswegen mit Interesse auf Bismarck, weil er in ihm einen sympathischen Gegenspieler Großbritanniens in den weltpolitischen Verwicklungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts sah? Vielleicht las Jack aber auch einfach deshalb gerne über Bismarck, weil er genau wie dieser ein Mann von Recht und Ordnung war, mit einem intuitiv konservativen Blick auf die Welt.
Während meiner akademischen Laufbahn bin ich Bismarck immer wieder begegnet, zuletzt bei meiner Studie zur Beziehung zwischen Zeit und Macht. Bismarck benutzte oft zeitliche Metaphern und beschrieb sich selbst als »Steuermann im Strom der Zeit«. Geschichte war für ihn ein immenser, schnell rauschender Fluss. Über dessen Fließrichtung hatte der Staatsmann keine Kontrolle. Er konnte jedoch, so Bismarck, das Steuer des Staatsschiffes entschlossen in die Hand nehmen, um stückweise den Kurs zu ändern und so die größten Gefahren zu umschiffen.
In der Tat war Bismarck ein Staatsmann, der es bevorzugte, Konflikte nicht zu lösen, sondern sie zu eskalieren, weil er darauf hoffte, dadurch neue Machtkonstellationen zu kreieren. Er fühlte sich an keine Konvention gebunden. Er war kein Konservativer des alten Typs, da er nie davon träumte, die ständische Welt des Adels wiederherzustellen; er war aber auch kein Liberaler. Er verachtete Beamte und hasste Journalisten. Mit all diesen Kräften konnte er aber trotzdem zusammenarbeiten, wenn es ihm angebracht erschien.
»Keudell sah hinter den Schein, er sah die Wutanfälle ebenso wie Bismarcks Liebe zu Beethoven, den dieser ›Beetchen‹ nannte.«
Die Memoiren Ballhausens und Keudells können uns dabei helfen, all diese Facetten besser zu verstehen. Keudell war einer der »Privatsekretäre«, die Bismarck während seiner langen Karriere verschliss. Natürlich verehrte Keudell die große Lichtgestalt, für die er arbeitete. Aber er sah auch hinter den Schein, die Wutanfälle, die zahllosen Fehden, die fast melancholische Nachdenklichkeit, den Mangel an Empathie, dafür aber auch die Liebe zur Musik, vor allem zu Beethoven, den Bismarck auf genauso liebevolle wie irritierende Weise »Beetchen« nannte. Ballhausen war ebenfalls durch und durch Bismarckianer. Auch wenn es immer wieder Meinungsverschiedenheiten gab, hielt er Bismarck, dem er ab 1879 als Landwirtschaftsminister diente, doch bis zum Schluss die Treue.
Beide Männer lassen in ihren Erinnerungen keinen Zweifel an der einzigartigen Präsenz Bismarcks. Jenseits aller Reden, Memoiren, Briefe, Anordnungen und Gesetze, die Bismarck mit viel Esprit, ungezügelten Emotionen und analytischem Scharfsinn verfasst hat, bleibt die Macht seiner Persönlichkeit ein Rätsel. Indem wir Bismarck durch die Lektüre von Keudells und Ballhausens Erinnerungen neu begegnen, können wir jedoch mit großer Klarheit erkennen, dass genau diese höchsteigene persönliche Kraft eine entscheidende Zutat seines politischen Erfolgsrezeptes war.
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Zu den Beteiligten
Der preisgekrönte Historiker und Bestseller-Autor Christopher Clark lehrt als Professor für Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine‘s College in Cambridge.