Papst Pius XII. spaltet bis heute die Nachwelt: Die einen nennen ihn »Hitlers Papst« und verweisen auf seine Beziehungen zu Adolf Hitler und Benito Mussolini sowie sein Schweigen zum Holocaust. Andere wollen ihn als Gegner von Faschismus und Nazismus seeligsprechen lassen. Der Pulitzer-Preisträger David I. Kertzer hat seit März 2020 in vom Vatikan geöffneten Archiven tausende Dokumente ausgewertet. In seinem Buch »Der Papst, der schwieg« erzählt er die Geschichte des kontroversen Kirchenoberhaupts.
wbg: Lieber Herr Professor Kertzer, Sie waren einer der ersten Historiker, die mit dem vatikanischen Archivmaterial über Pius XII. arbeiteten, das erst seit 2020 zugänglich ist. Wie war es, im Vatikanischen Apostolischen Archiv zu arbeiten, das bis 2019 noch Vatikanisches Geheimarchiv hieß? Können Sie Ihre Arbeit dort beschreiben?
David I. Kertzer: Seit Rolf Hochhuths Stück Der Stellvertreter 1963 in Berlin uraufgeführt wurde, später auch in New York und anderswo (aber nicht in Italien, wo die Kirche die Aufführung verhinderte), stand der Vatikan unter Druck, seine Archive über die Kriegsjahre zu öffnen. Das deutsche Theaterstück machte zuerst den Vorwurf weithin öffentlich, Pius XII. habe sich als Papst während des Krieges geweigert, sich gegen den Krieg der Nazis oder Hitlers Bestrebungen, die Juden Europas zu vernichten, auszusprechen. Schließlich verkündete Papst Franziskus 2019, er autorisiere die Öffnung der Archive zur Amtszeit Pius XII. (1919–1958) für das kommende Jahr. Ich war dort, als sich am 2. März 2020 die Tür öffnete. Außer mir warteten um halb neun Uhr morgens auch Professor Hubert Wolf und sein Forschungsteam, die damals ebenfalls dort arbeiten durften. Wir warteten im Innenhof des Vatikans vor der Tür des Apostolischen Archivs. Wenige Jahre zuvor hatte das Archiv noch Vatikanisches Geheimarchiv geheißen, aber Papst Franziskus änderte den Namen, weil er wohl der Meinung war, für manche hätte »Geheimarchiv« einen etwas unheimlichen Klang.
Um in diesem Archiv zu arbeiten, braucht man nicht nur eine Autorisierung, die das wissenschaftliche Interesse ausweist, sondern man muss auch Termine reservieren, da sehr viel mehr Menschen dort arbeiten wollen, als es Arbeitsplätze gibt. Nachdem man seine Jacke und Tasche in einem Schließfach im Erdgeschoss gelassen hat, nimmt man Laptop, Papier und Bleistifte (Kugelschreiber sind verboten, Internet gibt es auch nicht) mehrere Treppen mit hoch in den Hauptlesesaal. In diesem großen, hohen Saal stehen lange Tische links und rechts eines zentralen Hauptgangs. Am hinteren Ende befindet sich ein langer Tresen, wo man die Dokumente bei den Archivaren bestellt.
Es gibt keinen umfassenden Katalog, darum kann die Materialsuche für Neubenutzer ihre Tücken haben. Stattdessen gibt es viele Hilfsmittel wie gedruckte Findbücher. Sie befinden sich in einem langen Raum neben dem Hauptlesesaal. Beispielsweise hat jede Nuntiatur (die vatikanischen Botschaften) eigene Bände, die das betreffende Material aufschlüsseln. Forscher können nur drei Titel morgens und zwei weitere am Nachmittag bestellen. Diese Titel können aus dicken Ordnern mit Hunderten von Seiten bestehen, manchmal aber auch nur aus einer einzigen Seite. Dadurch sind manche Tage sehr enttäuschend, da man schnell merkt, dass sich in dem Material, das man an diesem Tag bestellt hat, nichts Nützliches findet. Sobald man in den Findbüchern das Material gefunden hat, bestellt man es über einen stationären Computer.
Ebenso wie es bei der Arbeit im Archiv viele Enttäuschungen gibt, kann es auch sehr aufregende Momente geben, wenn man ein zuvor unbekanntes Dokument findet, das ein wichtiges historisches Ereignis erhellt. Leider erlauben die vatikanischen Archive nicht, dass man Dokumente fotografiert, was in staatlichen Archiven möglich ist und die Forschung sehr erleichtert. Stattdessen muss man schriftlich beantragen, die Seiten kopieren zu lassen. Das ist im Vatikanischen Apostolischen Archiv sehr teuer, 8 Euro für die erste Seite und dann 2 Euro für jede weitere Seite aus demselben Ordner. Aus diesem Grund verbringen die meisten Forscher ihre Zeit im Archiv damit, Dokumente auf dem Computer abzuschreiben, eine Verschwendung wertvoller Arbeitszeit. Ich bin dankbar, dass meine Universität (Brown University) mir ein Forschungsbudget zur Verfügung stellt. Dadurch konnte ich mit meinem Forschungsmitarbeiter Roberto Benedetti für mein Buch mit rund 8000 Seiten sorgfältig ausgewählter digitalisierter Dokumente aus dem vatikanischen Archiv Pius XII. arbeiten.
Man sollte erwähnen, dass es noch weitere wichtige Archive im Vatikan gibt, die ich für mein Buch benutzt habe, vor allem das Archiv des Vatikanischen Staatssekretariats, das gegenüber dem Vatikanischen Apostolischen Archiv liegt, im selben Komplex wie das Staatssekretariat, sowie das Archiv der Glaubenskongregation, früher bekannt als Heiliges Offizium (der Inquisition). Letzteres befindet sich im Palast des Heiligen Offiziums auf der anderen Seite des Petersdoms. Jedes Archiv hat eine unabhängige Verwaltung, unterschiedliche Öffnungszeiten und Regeln für das Kopieren von Dokumenten. Die Papiere des Staatssekretariats können dort bereits digitalisiert auf Computern gelesen werden, was ungewöhnlich ist. Es gibt aber nur rund ein Dutzend Arbeitsplätze. Das Archiv der Glaubenskongregation hat nur etwa sechs Arbeitsplätze. Man muss viele Monate vorbestellen, um einen Platz zu reservieren.
wbg: Welche Dokumente überraschten oder beindruckten Sie bei Ihrer Forschung besonders?
David I. Kertzer: Das schockierendste und überraschendste war sicherlich die Entdeckung der Geheimverhandlungen, die Pius XII. mit Hitler über dessen persönlichen Gesandten Prinz Philipp von Hessen führte, kurz nachdem Pius XII. 1939 Papst wurde. Diese Verhandlungen waren so geheim, dass Hitler seinen eigenen Botschafter beim Heiligen Stuhl nicht einweihte. Dass der Vatikan diese Gespräche bis zu meiner Entdeckung im neu geöffneten Archiv acht Jahrzehnte lang geheim halten konnte, ist schon unglaublich. Noch aufschlussreicher war die Entdeckung von Protokollen der Treffen zwischen dem Papst und Hitlers Gesandtem. Sie sprachen deutsch. Pius XII., der von 1917 bis 1929 Nuntius in Deutschland gewesen war, sprach fließend Deutsch, worauf er sehr stolz war. Anscheinend hielt sich im Nebenzimmer ein deutscher Geistlicher auf – was von Hessen wohl nicht wusste –, der ihre Gespräche mitschrieb.
Ebenfalls sehr aufschlussreich unter den jetzt zugänglichen vatikanischen Dokumenten sind die Memos von Beratern aus der direkten Umgebung des Papstes, die ihm rieten, wie er auf die Appelle zur Verurteilung der Judenvernichtung reagieren solle. Es gab mehrere besonders dramatische Momente, so im Herbst 1942, als Präsident Roosevelt anfragte, ob der Papst Berichte über systematische Morde der Nazis an Juden bestätigen könne; dann der 16. Oktober 1943, als die SS 1260 Juden festnahm und zwei Tage in einer Militärschule direkt neben den Mauern des Vatikanstaats internierte, bevor sie 1000 von ihnen direkt nach Auschwitz schickte; und zwei Monate später nach dem Befehl von Mussolinis Marionettenregierung im Norden, alle Juden in Italien festzunehmen und in Konzentrationslager zu schicken. In jedem dieser Fälle findet man zuvor unbekannte Dokumente, die dem Papst raten, nicht zu protestieren, was er auch befolgte. Besonders interessant sind die Memos des Mannes, den der Papst als seinen Hauptexperten für jüdische Fragen ansah, Monsignor Angelo Dell’Acqua vom Staatssekretariat. Der tiefe Antisemitismus in Dell’Acquas Memos ist bezeichnend.
wbg: Sie schreiben einerseits, das Pontifikat Pius XII. lasse sich als »erfolgreich« betrachten, andererseits ist er in Ihren Augen »gescheitert«. Wie ist dieser Widerspruch zu verstehen?
David I. Kertzer: Die Rolle des Papstes ist vielschichtig, so kann er in manchen seiner Rollen als erfolgreich gelten, in anderen dagegen ist er als gescheitert zu betrachten. Pius XII. sah sich in erster Linie als verantwortlich für das Wohl der Institution Kirche und als Hüter ihrer Mission der Evangelisierung. Ebenso wie sein Vorgänger Pius XI. bereit war, einen Handel mit Mussolini einzugehen und im Austausch gegen verschiedene Vorteile für die Institution Kirche das faschistische Regime zu unterstützen, wollte Pius XII. Hitler nicht verärgern, um den Schaden für die Kirche durch das NS-Regime zu begrenzen. Darin war Pius XII. erfolgreich, denn die Kirche überstand den Krieg recht gut, und die Fortschritte durch das Abkommen seines Vorgängers mit Mussolini erwiesen sich als dauerhaft. Päpste haben aber noch eine andere Rolle, die Pius XII. sicherlich auch erfüllen wollte, nämlich die des moralischen Führers. Hier würde ich ihn als gescheitert ansehen. Obwohl die Kirche unter seiner Führung während des Krieges viele humanitäre Anstrengungen unternahm, schreckte er vor allem zurück, was das Wohl der Kirche hätte gefährden können. So sprach er während des Holocaust nicht ein einziges Mal das Wort »Jude« aus und protestierte auch am 16. Oktober 1943 nicht öffentlich, als die Juden Roms zusammengetrieben wurden.
wbg: Ihr Vater Morris Kertzer landete 1944 als jüdischer Seelsorger mit den US-Truppen in Italien und leitete den ersten Gottesdienst in der Großen Synagoge in Rom nach der deutschen Besatzung. Inwieweit hat Ihre Beschäftigung mit der Haltung Pius XII. und des Vatikans gegenüber Faschismus und Nationalsozialismus auch eine persönliche Seite?
David I. Kertzer: Ich wurde keine drei Jahre nach Kriegsende geboren und wuchs mit den Erzählungen meines Vaters über seine Erlebnisse in Italien während des Krieges auf.. Im Jahr vor meiner Geburt hatte meine Familie ein jüdisches Mädchen aus Ungarn namens Eva aufgenommen, die Auschwitz überlebt hatte, wo ihre Eltern und Geschwister ermordet wurden. Für mich war der Holocaust also eine emotionale, nicht nur eine intellektuelle Realität. Es gibt aber noch einen weiteren familiären Faktor, der vielleicht relevant ist. Als ich ein Jahr alt war, wurde mein Vater der erste Direktor für interreligiöse Angelegenheiten beim American Jewish Committee, einer der größten jüdischen Organisationen in den USA. Er arbeitete mit protestantischen Pfarrern und katholischen Priestern daran, antisemitisches Material aus ihren Sonntagsschulen und Gottesdiensten zu entfernen. Er entwickelte große Zuneigung für die vielen christlichen Geistlichen, die die jahrhundertealte christliche Dämonisierung der Juden beenden wollten. Sicher haben all diese familiären Faktoren das Interesse mit beeinflusst, das ich für das Handeln des Vatikans während des Krieges habe. Doch daneben waren es auch seit Langem existierende Forschungsinteressen, vor allem mein doppelter Fokus auf italienische Geschichte und auf die Überschneidungen von Politik und Religion. All das kam zusammen beim Schreiben von »The Pope at War«.
Über das Buch »Der Papst, der schwieg«
Pulitzer-Preisträger David Kertzer erzählt in seinem neuen Werk die dramatische Geschichte des umstrittenen Papstes Pius XII. und seiner Beziehungen zu Italiens Diktator Benito Mussolini und Deutschlands Führer Adolf Hitler. Einerseits als "Hitlers Papst" verunglimpft, weil er nicht öffentlich gegen den Holocaust protestierte, wird er andererseits von manchen Katholiken, die seine Seligsprechung befürworten, als heldenhafter Gegner des Faschismus und des Nazismus verklärt. Ein halbes Jahrhundert lang haben Wissenschaftler und jüdische Organisationen Druck auf den Vatikan ausgeübt, seine geheimen Archive für die Kriegsjahre zu öffnen, um die Kontroverse um die Bewertung Pius XII. beizulegen. »Der Papst, der schwieg« ist weltweit das erste Buch, das Tausende von Dokumenten aus diesen im März 2020 endlich geöffneten Archiven nutzt, um eine bisher unbekannte und in vielen Punkten schockierende Geschichte zu erzählen.
Weiterführende Links
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Zu den Beteiligten
David I. Kertzer ist Professor für Sozialwissenschaft, Anthropologie und italienische Studien an der Brown Universität in den USA. Bereits drei Mal wurde ihm der angesehene italienische Marraro-Preis für historische Studien verliehen. Sein Buch über Papst Pius XI. und den Faschismus, das 2015 mit dem Pulitzer-Preis gekrönt wurde, erschien 2016 bei der wbg unter dem Titel "Der erste Stellvertreter" und wurde insgesamt in 10 Sprachen übersetzt.
ein sehr aufschlussreiches Interview, das mich zu weiteren Überlegungen veranlasst hat
Im Sommer 2022 hat der Vatikan den sog. Bestand „Ebrei" des Historischen Archivs des Staatssekretariats online gestellt: Serie Ebrei - Archivio Storico della Sezione per i Rapporti con gli Stati, Fondo Affari Ecclesiastici Straordinari - Segreteria di Stato (vatican.va). Die Gründe nennt Vatican.news: Warum der Vatikan die jüdischen Hilfsgesuche an Pius XII. publiziert - Vatican News. In Verbindung mit meinem Manuskript "Transit Istanbul-Palästina" habe ich über den Freundeskreis Yad Vashem Berlin in Jerusalem anfragen lassen, ob dort Dokumente von geretteten Juden vorliegen, in denen die Rettung einer Intervention des Vatikans zugeschrieben wird. Eine Antwort von Yad Vashem blieb auch nach mehrmaligen Rückfragen der Leiterin des Freundeskreises aus. Hier ist nicht der Platz für eine Erörterung möglicher Gründe.
Reiner Möckelmann 3-2-2023