Der Sefer Evronot des Judah Mehler Reutlingen – und was hinter dieser jüdischen Prachthandschrift von 1649 steckt

Der Sefer Evronot des Judah Mehler Reutlingen – und was hinter dieser jüdischen Prachthandschrift von 1649 steckt

Ein Gespräch mit wbg-Lektor David Zimmermann und der Judaistin und Autorin Annett Martini

 

 

 

Daniel Zimmermann: Liebe Frau Martini, als ich ein halbes Jahr in der Türkei war, sind mir viele Menschen begegnet – sowohl Frauen als auch Männer – mit dem Vornamen Sefer. Das bedeutet so etwas wie ‚Reise‘, oder ‚Aufbruch‘. Die von Ihnen übersetzte jüdische Prachthandschrift „Sefer Evronot“ wird damit wohl nichts zu tun haben. Was bedeutet der Titel des Buches?

Annett Martini: Nein, mit „Reise“ oder „Aufbruch“ hat das hebräische Wort sefer nichts zu tun. Es bedeutet ganz einfach „Buch“ und führt den Titel des Werkes von Judah Mehler Das Buch der Interkalationen an. Ein Sefer Evronot behandelt im Wesentlichen die Berechnung von Schaltjahren und die sich daran anschließenden Festlegungen der Festzeiten und – wie in unserem Fall – auch der liturgischen Lesungen. Diese Berechnungen waren notwendig, da das jüdische Jahr auf dem etwa 11 Tage kürzeren Mondjahr beruht und an den solaren julianischen bzw. gregorianischen Sonnenzyklus angepasst werden muss. Doch mit der regelmäßigen Schaltung eines Monats konnten sich die jüdischen Kalenderexperten nicht zufriedengeben. Es gelten gewisse Regeln für die jüdischen Feiertage – etwa der Abstand zwischen ihnen und ihre Festlegung auf einen gewissen Wochentag bzw. der Ausschluss eines bestimmten Wochentages für dieses Fest –, die das jüdische Kalenderwesen so extrem komplex machen.

 

Die erste Bildseite des Sefer Evronot (© Staatsbibliothek Berlin, Ms. or. oct. 3150)

 

D.Z.: Ein Buch über Kalender, Feier- und Festtage? Wieso ist das in der jüdischen Welt ein so wichtiges Thema?

A.M.: Ein aktuelles Kalenderwerk war aus unterschiedlichen Gründen insbesondere für die jüdischen Gemeinden in der Diaspora für das friedliche Zusammenleben mit den christlichen Nachbarn außerordentlich wichtig. Auch das Kalenderwerk Judah Mehlers beinhaltet eine Auflistung der christlichen Feiertage sowie der festgelegten Jahrmärkte. Überschneidungen sollten vermieden werden. Nicht nur um eine Störung des Geschäftslebens insbesondere der Landjuden, die aktiv Viehhandel betrieben, zu gefährden, sondern auch um Provokationen zu vermeiden. Das fröhliche Purimfest, beispielweise, sollte besser nicht in die christliche Fastenzeit oder die Karwoche fallen, da dieses ausgelassene Feiern missverstanden und die jüdischen Gemeinden einer sehr reellen Gefahr ausgesetzt werden konnten.

D.Z.: Das Buch ist entstanden am Mittelrhein in der Endzeit des Dreißigjährigen Kriegs. Was erfahren wir über die Lebenswirklichkeit dieses Zeitalters?

A.M.: Aus dem Sefer Evronot erfahren wir zunächst einmal, wie schwierig sich das jüdisch-christliche Zusammenleben mitunter gestaltete. Der Dreißigjährige Krieg wird hier nicht direkt angesprochen, doch kann man darüber spekulieren, ob nicht an der einen oder anderen Stelle messianische Hoffnungen mitschwingen, die zur Zeit der Abfassung von Mehlers Schrift in den jüdischen Gemeinden – nicht zuletzt aufgrund der erschütternden Erfahrungen durch den Krieg – durchaus verbreitet waren. Doch Mehler hat im Zusammenhang mit einer Predigtsammlung aus seiner Feder einige autobiographische Notizen hinterlassen, die zeigen, wie sehr ihn Gewalt, Zerstörung und Not durch den Krieg erschüttert haben. Das kurze Dokument ist ein wichtiges Zeugnis seiner Zeit.

D.Z.: Das Buch ist eine prachtvolle, illuminierte HANDSCHRIFT! In Europa gibt es den Buchdruck seit 200 Jahren. Wieso wird in Bingen um 1650 eine jüdische Handschrift angefertigt?

A.M.: Tatsächlich ist es ein interessantes Phänomen, dass sich ab Mitte des 16. Jahrhunderts trotz des bereits etablierten Buchdrucks vor allem in Süddeutschland eine ganze Reihe jüdischer Kalenderwerke über Handschriften verbreiteten. Es spricht einiges dafür, dass die Autoren dieses Genres durch das Festhalten an einer handschriftlichen Überlieferung an eine lebendige jüdische Kultur der mündlichen Gelehrsamkeit anzuknüpfen suchten. Mit einem nostalgischen Blick in die Vergangenheit betonen die Autoren der frühen Neuzeit – so auch Judah Mehler –, dass sie ihr Wissen aus „den Büchern der Alten“ zusammengetragen haben. Die „Geheimnisse der Kalenderwissenschaft“ sollen zukünftigen Generationen ins Gedächtnis gerufen werden. Die Handschriftlichkeit kommt dieser fluiden Textkultur des Lernens und Lehrens sehr entgegen, da Glossen, Kommentare oder Bilder leicht hinzugefügt oder ausgelassen werden können. Man wollte sich vielleicht auch in eine Linie mit den großen Gelehrtenschulen des Mittelalters stellen und den durch Pestpogrome und Vertreibung verlorenen Traditionsfaden wieder aufgreifen und weitergeben.

D.Z.: Es gibt in dieser Handschrift ganz unterschiedliche Illuminationen. Alltagsszenen, geradezu allegorische Abbildungen, und dann aufwändig gestaltete Tabellen und Zeittafeln. Wie sind diese Illuminationen kunsthistorisch zu beurteilen?

 

fol. 17r der Handschrift: Die unterschiedlichen Gewichte auf dem Tisch unter der Waage stehen für mathematische Zeiteinheiten des liturgischen Kalenders. (© Staatsbibliothek Berlin, Ms. or. oct. 3150).

 

A.M.: Judah Mehler griff bei der Illuminierung seines Kalenderwerks auf motivische Vorlagen zurück, die eine lange Tradition innerhalb der Kalenderwissenschaft haben. Die zahlreichen, mit nüchternen Zahlenreihen gefüllten Tabellen, die die periodischen Zeitläufe des Mondes, die zeitlichen Überschüsse zwischen Sonnen- und Mondjahr oder etwa die exakten Jahreszeitenanfänge innerhalb der unterschiedlichen Jahrestypen anzeigen, sind in farbige Flechtmuster gerahmt, von medaillonartigen Überschriften gekrönt, mit floralen oder figürlichen Malereien verziert. Bestimmte Themenbereiche sind mit wunderbar ausgeführten Malereien geschmückt. Die Handschrift enthält darüber hinaus farbenprächtige Volvellen, mit deren Drehscheiben eigentlich komplizierte Kalenderberechnungen vereinfacht werden können. Es bedurfte Geschick und Wissen, die unterschiedlichen Drehscheiben kreisförmig mit den exakten Daten zu beschriften und übereinander gelagert auf dem Papier so zu befestigen, dass sie als Hilfsmittel genutzt werden können. Das Studium dieser dargestellten Motive lässt tief in die Symbolik der Kalenderwissenschaft blicken.

 

fol. 33v: Eine Volvelle, eine Drehscheibe (ähnlich unserer heutigen Parkscheibe), die in der äußeren Scheibe die 19 Jahre des kleinen Zyklus mit den Überschüssen des einfachen Mondjahres zeigt, die mittlere Scheibe enthält die Jahre 5279–5291 (mit den entsprechenden Überschüssen) und die innere Scheibe einhält die tequfot mit den Überschüssen. (© Staatsbibliothek Berlin, Ms. or. oct. 3150).

 

D.Z.: Der Schöpfer dieses Buches ist Judah Mehler Reutlingen, der aber in Bingen wirkte. Was wissen wir über diesen Rabbi?

A.M.: Wir wissen eigentlich nicht so viel über Rabbi Judah Mehler Reutlingen, der bereits in der Studie von Phillipp Bloch aus dem Jahre 1916 als einer der bedeutendsten Rabbiner der Rheingaus bezeichnet wurde. Mehler stammt aus einer gebildeten Familie – sein Vater wirkte als Rabbiner in Fulda, wo er seine Jugend mit dem Studium jüdischer Traditionsliteratur verbrachte und wahrscheinlich auch mit kabbalistischen Schriften in Kontakt kam.

Unsere Handschrift enthält übrigens auch eine Abschrift der mystischen Spekulationen des Shlomo ben Jehiel Luria zur Gestalt der Menorah, der hier auch eine Übersetzung beigefügt wurde! Der junge Rabbiner Fuldas, Meir Schiff, der sich ebenfalls mit kabbalistischen Traditionen auseinandersetzte, muss Mehler in dieser Zeit stark beeinflusst haben.

1629 heiratete Mehler und zog nach Windecken im Hanauer Land; von dort ging es für ihn und seine Familie 1637 nach Hanau, um 1644 schließlich das Rabbinat und die Leitung der Talmudschule in Bingen zu übernehmen. Er blieb der jüdischen Gemeinde in Bingen trotz durchaus lukrativer Angebote - beispielsweise aus Koblenz und Trier - bis zu seinem Tod 1659 treu.

Neben dem Kalenderwerk hat Mehler zwei Predigtsammlungen, rechtsgelehrte Schriften, Abschriften kabbalistischer Werke und die bereits erwähnte autobiographische Abhandlung hinterlassen.

D.Z.: Liebe Frau Martini, ganz herzlichen Dank für dieses informative Gespräch!

 

Über das Buch

Das hebräische Werk »Sefer Evronot« des Rabbiners Judah Mehler Reutlingen ist Mitte des 17. Jahrhunderts in Bingen entstanden. Die erst kürzlich restaurierte Handschrift zählt zu den wertvollsten Schätzen der Staatsbibliothek zu Berlin und ist eine der eindruckvollsten jüdischen Handschriften der Frühen Neuzeit. Auf 168 Seiten entwirft der jüdische Gelehrte eine detaillierte Anleitung zur Berechnung des jüdischen Festkalenders, die von prachtvollen Illuminierungen mit biblischen Motiven, religiösen Gegenständen, Tieren und Szenen aus der Alltagskultur der Zeit begleitet wird. Eine Besonderheit sind die üppig verzierten Kalendarien, die für die rabbinische Kalenderberechnung verwendet wurden. Die einzigartige Handschrift wird hier zum ersten mal vollständig reproduziert, übersetzt und kommentiert. Die Erläuterungen von Annett Martini, Dieter Bingen und Matthias Schmandt zeigen die kulturhistorische Bedeutung des Manuskripts und dessen Autors. Ein faszinierender Beitrag zur jüdischen Buchkunst!

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Zu den Beteiligten

Annett Martini studierte Judaistik, Religionswissenschaften und Germanistik in Berlin und Jerusalem und promovierte zu Pico della Mirandolas kabbalistischer Bibliothek. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Judaistik der FU Berlin, Gastprofessuren an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg und der Universität Augsburg und 2018 Habilitation mit einer Arbeit zu Jüdischen Konzeptionen des rituellen Schreibens in der europäischen Kultur des Mittelalters. 2017-2020 Leitung des Forschungsprojekts „Die hebräischen Handschriften der Erfurter Sammlung als kulturhistorische Zeugen jüdischen Lebens im Mittelalter“. Seit April 2022 Leitung des Verbundprojekts „Materialisierte Heiligkeit: Torarollen als kodikologisches, theologisches und soziologisches Phänomen der jüdischen Schriftkultur in der Diaspora“ (ToRoll).

 

Daniel Zimmermann lebt in Mainz und ist Programmmanager im wbg-Lektorat Geschichte. Dort ist er zuständig für die Programme wbg Theiss, wbg Edition, wbg Academic und wbg Zabern.

 

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