Ein Interview des NS-Historikers Martin Cüppers mit dem Autor Thomas Sandkühler
Martin Cüppers: Herr Sandkühler, mit „Das Fußvolk der ‚Endlösung‘“ haben Sie ein erkenntnisreiches Buch geschrieben zu nichtdeutschen Tätern, zu ukrainischen Hilfspolizisten und vor allem zu den Trawniki - diesen nach ihrem Ausbildungsort Trawniki benannten, meist kriegsgefangenen Ukrainern, Balten oder Wolgadeutschen, die von der SS als Handlanger für den Massenmord in den osteuropäischen Vernichtungslagern rekrutiert wurden. Welche Bedeutung hatten diese speziellen Gruppen größtenteils nichtdeutscher Akteure im Rahmen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik?
Thomas Sandkühler: Die Nazis wollten in Osteuropa eine riesige Zahl angenommener Feinde des Reiches ermorden, sie hatten aber schlicht nicht genug Personal für diese sehr umfassende Vernichtungspolitik. Also rekrutierten sie Hilfskräfte, die nach den eigenen rassistischen Maßstäben als „fremdvölkisch“ und damit minderwertig galten. In der gesamten kolonialistischen Besatzungspolitik gab es diese Schizophrenie: Die Kolonialverwaltung setzte immer in erheblichem Umfang das Mittun der Kolonisierten voraus.
Martin Cüppers: Wie lassen sich die ukrainischen Hilfspolizisten sowie die Trawniki im Vergleich zu anderen nationalsozialistischen Tätergruppen einordnen und was ist in den vorhandenen Quellen zur Bandbreite individuellen Verhaltens dieser Männer überliefert?
Thomas Sandkühler: Es gibt einige Gemeinsamkeiten zwischen beiden Gruppen, beispielsweise ihre fast ausschließliche oder, bei den Trawniki–Männern, überwiegend ukrainische Herkunft. Die ukrainische Hilfspolizei unterstützte die deutsche Schutzpolizei; die Trawniki–Männer waren Hilfspolizisten der SS. Letztere waren zahlenmäßig viel stärker, es gab im Generalgouvernement Polen, über das wir hier sprechen, mindestens fünfmal so viele SS-Wachmänner wie ukrainische Polizisten. Über das individuelle Verhalten wissen wir ziemlich wenig, weil die überlieferten Quellen darüber kaum Auskunft geben. Man kann aber sicher sagen, dass beide Formationen gewalttätig gegen die jüdische Minderheit waren, extrem gewalttätig bei den so genannten Ghetto-Räumungen und in den Vernichtungslagern der „Aktion Reinhardt“, die operativ tatsächlich überwiegend von „Trawnikis“ betrieben wurden. 20 Deutsche, 120 nichtdeutsche Wachmänner - so ungefähr sah es in diesen Lagern aus.
Martin Cüppers: Der Öffentlichkeit ist besonders ein früherer Trawniki bekannt geworden: der im Vernichtungslager Sobibor eingesetzte, dann in Israel angeklagte und schließlich in München erstinstanzlich zu mehrjähriger Haft verurteilte Iwan Demjanjuk. War Demjanjuk in Ihren Augen ein „typischer“ Trawniki? Und was ist über ihn als Wachmann überhaupt konkret bekannt?
Thomas Sandkühler: Demjanjuk war ukrainischer Herkunft, war wenig gebildet, geriet als junger Rotarmist in deutsche Gefangenschaft und wurde im Kriegsgefangenenlager von der SS angeworben. Das war 1942. Die ersten Wellen von Rekruten kamen seit dem Herbst des Vorjahres in das Ausbildungslager Trawniki. Für sie gab es oftmals nur die Alternative, im Kriegsgefangenenlager zu verhungern – denn dieses Schicksal hatte die Wehrmacht den sowjetischen Soldaten zugedacht – oder in die Dienste der SS zu treten. Das mag bei Demjanjuk etwas anders gewesen sein; der Druck zum Beitritt war vermutlich nicht so hoch wie bei den früheren Rekrutierungen. Es gibt den Dienstausweis, der immer wieder in der Presse abgedruckt wurde, und man weiß nun auch aus der von Ihnen mit herausgegeben Fotodokumentation „Fotos aus Sobibor“, dass er im Vernichtungslager Sobibór tätig war. Das war’s dann aber auch schon. Aber auch das ist nicht untypisch: Über die große Mehrheit der „Trawnikis“ wissen wir so gut wie nichts. In Erinnerung blieben die meist russlanddeutschen Unteroffiziere, die sich selbst als verlängerter Arm der deutschen Lagerführung betrachteten und sich genauso aufführten, wie man das von ihnen erwartete. Zu den Aufgaben dieser Männer gehörte es auch, die eigenen Kameraden zu verprügeln und zu erschießen. Dafür wurden sie mit Privilegien und einer gewissen Wertschätzung durch die deutschen ‚Herrenmenschen‘ belohnt.
Der Eingang des Vernichtungslagers Sobibór („SS-Sonderkommando"), 1943.
Martin Cüppers: Abgesehen von Demjanjuk sind die in ihrem Buch analysierten Einheiten fast nur der Fachwelt bekannt. Wie erklären Sie sich die auffälligen Fehlstellen in der öffentlichen Wahrnehmung des unter dem NS-Tarnbegriff „Aktion Reinhardt“ von den Deutschen - auch mithilfe der „Trawnikis“ und der ukrainischen Hilfspolizei - organisierten Holocaust in Polen?
Thomas Sandkühler: Die Aufmerksamkeit der historischen Forschung hat sich jahrzehntelang nicht auf die Empirie von Massenverbrechen gerichtet, sondern auf ihre Ingangsetzung, auf die Rolle Hitlers, den bürokratischen Charakter des Massenmordes. Zudem wurden die deutschen Juden, wenn ihnen nicht die Flucht gelungen war, überwiegend in Auschwitz-Birkenau getötet. Dieses größte aller Vernichtungslager galt gewissermaßen als Realtypus eines tödlichen Fließbandes. Dagegen erschien die „Aktion Reinhardt“ als lokal begrenzt, improvisiert, chaotisch. Man hielt sie für eine Vorform dessen, was in Auschwitz auf seinen Höhepunkt kam. In gewisser Weise stimmt das auch, denn in der Genese der Massenvernichtung stand die „Aktion Reinhardt“ zwischen den Erschießungen durch Tötungskommandos von SS und Polizei in der Sowjetunion und der Zentralisierung des europäischen Judenmords in Auschwitz. Inzwischen wissen wir aber sehr genau, dass der Vernichtung in Ostpolen weitaus mehr Juden zum Opfer gefallen sind als in Auschwitz, und auch sie kamen nicht nur aus Polen, sondern aus einer Reihe weiterer europäischer Länder. Über 90 Prozent der Holocaust-Opfer waren Ausländer, vor allem osteuropäische Juden. Nach meinem Eindruck ist dieser Forschungsbefund, der ja nun auch schon zwei Jahrzehnte alt ist, in den Leitmedien der Geschichtskultur nie angekommen, auch nicht im Schulunterricht. Aber das ist ein anderes Thema.
Martin Cüppers: Die Mitwirkung dieser Akteure bei der „Aktion Reinhardt“ wirft einmal mehr die Frage nach dem Anteil nichtdeutscher Unterstützer bei der NS-Vernichtungspolitik auf. War der Holocaust, wie einmal argumentiert wurde, auf der Täterseite ein europäisches Projekt, gar ohne Hitler und die Deutschen denkbar, oder ist der Kontinent im Zweiten Weltkrieg doch eher vom Widerstand gegen die Nationalsozialisten und ihre nichtdeutschen Verbündeten und Helfer geprägt?
Thomas Sandkühler: Ich glaube, die Alternative ist ja nicht: europäische Vernichtungsabsicht oder europäischer Widerstand. Die nichtdeutschen Helfer waren durchweg Mitglieder von staatlichen Gewaltorganisationen, ins Leben gerufen und befehligt von Deutschen. Die politische und moralische Verantwortung des „Dritten Reiches“ wird niemals durch die Erkenntnis geschmälert, dass es auf dem ganzen Kontinent Helfer gab. Etliche Regierungen, beispielsweise auf dem Balkan, brachten eigene, beispielsweise wirtschaftliche, Interessen in die Zusammenarbeit mit den Deutschen ein; sie kollaborierten. Und es gab in Osteuropa rechtsradikale, ihren Stil nach faschistische Milizen, deren Judenhass den der Deutschen zum Teil übertraf. Insofern würde ich sagen: Es gibt absolut eine europäische Dimension des Judenhasses, was Opfer und Täter angeht, aber es gibt nicht ein europäisches Projekt, genannt Holocaust.
Die Absicht, alle europäischen Juden zu ermorden, innerhalb und vor allem außerhalb der eigenen Grenzen, hatte nur das Deutsche Reich unter Hitler. In meinem Buch gehe ich auch auf die Tötungsorganisationen ein, die unter soziologischem Gesichtspunkt mehr erklären als die Annahme einer bestimmten psychologischen Konstellation, sei es Gehorsamsbereitschaft oder Gruppendruck. Natürlich spielte alles das eine Rolle, aber wichtiger war, dass Zwangsorganisationen geschaffen wurden, die ihre Mitglieder dazu brachten, Tötungszwecke zu erfüllen. Und diese Organisationen waren durchweg deutsche Hervorbringungen, geschaffen zum Zweck der massiven Gewaltausübung gegen Slawen, gegen Roma, gegen Homosexuelle, vor allem aber und entsetzlich final gegen Juden auf dem gesamten europäischen Kontinent, soweit die Wehrmacht ihn besetzt hatte.
Trawniki-Männer vor Erschossenen im Warschauer Ghetto (Originalunterschrift: „Askaris, die miteingesetzt waren“), April/ Mai 1943
Martin Cüppers: Sie haben den Lehrstuhl für Geschichtsdidaktik an der Humboldt-Universität zu Berlin inne. Erscheinen aus Ihrer Sicht Elemente Ihrer jüngsten Forschungsarbeit auch für eine Vermittlung in der universitären Lehre und in eine interessierte Öffentlichkeit besonders geeignet?
Thomas Sandkühler: Jetzt geht es zum Glück also doch noch um die Schule. Wir erleben seit etwa zwei Jahrzehnten deutliche Tendenzen einer Ritualisierung der Erinnerung an die Ermordung der europäischen Juden. Holocaust Education gehört für mich in diese Kategorie, also die Annahme, dass vorzugsweise menschenrechtliche Lehren aus dem Holocaust gezogen werden können. Kenntnisse, was geschehen ist, bleiben dahinter zurück. Täterforschung bietet demgegenüber das Potenzial klassischer Fallstudien, in denen darüber nachgedacht und diskutiert werden kann, warum eine so riesige Zahl von meist männlichen Zeitgenossen in der Lage war, unschuldige Männer, Frauen und Kinder grausam umzubringen. Quellen gibt es dafür genug. Man muss sie aber lesen, man muss sie analysieren, vergleichen. Das macht mehr Arbeit als Geschichtspädagogik, bietet aber allergrößte Chancen für nachhaltiges historisches Lernen. Dies ist absolut notwendig für die Zukunft unseres deutschen historischen Gedächtnisses.
Zum Buch »Das Fußvolk der Endlösung« →
Zu den Beteiligten
Martin Cüppers, geb. 1966, ist Wissenschaftlicher Leiter der Forschungsstelle Ludwigsburg und Privatdozent für Neuere Geschichte an der Universität Stuttgart. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen u.a.: „Walther Rauff in deutschen Diensten. Vom Naziverbrecher zum BND-Spion“ (2013); vielbeachtet außerdem: „Fotos aus Sobibor. Die Niemann Sammlung zu Holocaust und Nationalsozialismus“ (2020, hrsg. mit Bildungswerk Stanisław Hantz e. V.).
Thomas Sandkühler, geb. 1962, ist Historiker und Professor für Didaktik der Geschichte an der Humboldt Universität Berlin. 2010/11 verfasste er für zwei große Prozesse in Dortmund und München Sachverständigengutachten über sogenannte „fremdvölkische“ Polizeiformationen. Dabei gewann er Einblick in umfangreiche Dokumente des Office of Special Investigations (OSI), die den Grundstein legten zu der vorliegenden großen Darstellung. Sandkühler hat zahlreiche Bücher und Aufsätze zu Themen der deutschen Zeitgeschichte verfasst, zuletzt erschien seine brillante Biografie ‚für junge Leute‘ „Adolf H. Lebensweg eines deutschen Diktators“ (2015), die inzwischen in mehrere Sprachen übersetzt worden ist.