Die heiligste Stadt des alten Ägypten – Dietrich Raue im Interview über die Tempelanlage von Heliopolis

Dietrich Raue ist Kustos des Ägyptischen Museums, der Universität Leipzig und Co-Direktor der internationalen Ausgrabungen im Sonnentempel von Heliopolis.

 

wbg: Herr Dr. Raue, in Ihrem neuen Buch widmen Sie sich der altägyptischen Tempelanlage von Heliopolis. Was ist das Besondere an dieser Anlage?

Dietrich Raue: Die Geschichte dieses Tempels hängt eng mit einer der ältesten Fragen der Menschheit zusammen: Wie entstand die Welt? Und wo stehen wir als Menschheit in diesem Prozess? Die Antwort der altägyptischen Kultur lautet: Alles auf Erden ist ein Spaltungsprodukt der Urmaterie, des Alls – Atum genannt. Am Ende der Aufspaltung steht das Königtum als logisches Produkt. In Heliopolis stand der Haupttempel des Schöpfergottes und bis in das 4. Jahrhundert v. Chr. hinein muss der Herrscher Ägyptens den Segen des Schöpfer- und Sonnengottes einholen.

 

wbg: Wie sind Sie dazu gekommen, sich mit Heliopolis zu beschäftigen?

Dietrich Raue: Während des Studiums stieß ich eher zufällig auf den Umstand, dass Heliopolis zwar in einer Vielzahl von Texten erwähnt wird, aber dass man über den eigentlichen Ort sehr wenig wusste. Schon die ersten Schritte zeigten, dass auch mehr erhalten sein könnte, als man es bis dahin für möglich hielt. Seit 1993 hatte ich erstmals mit den ägyptischen Kollegen vor Ort zusammenarbeiten dürfen. Bei jeder dieser Begehungen stellte sich mir die Frage: Wie muss man sich den Ort vorstellen, aus dem die zahlreichen Obelisken in Rom, Florenz, Alexandria, New York und London stammten? Die ägyptischen Kollegen zeigten mir eine Vielzahl von Aufnahmen ihrer früheren Arbeiten, die vermuten ließen, dass gut zwei bis drei Meter unter unseren Füßen noch viel zu finden sein müsste.

 

»Eine Reihe von Bauwerken ist uns auch durch Texte bekannt, die an anderen Fundplätzen Ägyptens entdeckt worden waren.«

 

wbg: Die Fundsituation in Heliopolis ist wesentlich schlechter als z. B. in Theben oder Memphis. Wie konnten Sie dennoch die Geschichte der Anlage rekonstruieren?

Dietrich Raue: Zwischen 1993 und 1996 hatte ich alle Quellen, die über Heliopolis berichteten, gesammelt. Viele wichtige Denkmäler, z.B. einige der Obelisken in Rom, waren ja schon in der römischen Kaiserzeit abtransportiert worden. In den Monaten nach der Revolution von 2011 trat das Ägyptische Antikenministerium mit dem Angebot einer Kooperation zum Schutz des gefährdeten Tempelgebiets an uns heran. Seither füllen wir sukzessive die Leerräume der Pläne mit archäologischen Informationen. Im Süden des Bezirks befand sich beispielsweise eine Vielzahl von Göttertempeln. Dieses System beginnen wir nun mit unseren Neufunden zu verstehen. Hierzu gehören sakrale Einheiten, die zuvor gänzlich unbekannt waren, wie etwa der Tempel Ramses‘ II. für Amun und Mut. Eine Reihe von Bauwerken ist uns auch durch Texte bekannt, die an anderen Fundplätzen Ägyptens entdeckt worden waren. Auch Königsbesuche werden zum Teil exakter beschrieben – von all den dort beschriebenen Monumenten haben wir bisher nur einen geringen Anteil wiederentdecken können.

 

»Die schiere Größe der Monumente regte immer wieder zu faszinierenden Geschichten an.«

 

wbg: Bis in die islamische Zeit bildeten sich Legenden und Geschichten um Heliopolis. Wie erklären Sie sich das?

Dietrich Raue: Durch den Tempelkult hatte der König den Sonnengott zu unterstützen, hier wurde die Welt so besungen, wie sie sein sollte. Daraus entwickelte sich ein Wissen, aufgrund dessen antike Autoren es für möglich hielten, dass Geistesgrößen wie Pythagoras oder Platon Studienaufenthalte in Heliopolis absolviert hatten. Die Legenden zu Heliopolis umkreisen damit die gerechte Versorgung der Menschen auch und besonders nach dem Tod und unverfälschte Weisheit einer ganz besonderen Qualität. Aber auch nach der eigentlichen Blütezeit hört die Legendenbildung zu Heliopolis nicht auf.Die schiere Größe der Monumente regte immer wieder zu faszinierenden Geschichten an. Man setzte sich mit der Antike auseinander, oder man kam an ihr vorbei, oder man demonstrierte gerade hier Stärke gegenüber der heidnischen Zeit, indem man im 9. Jh. Statuen zerstörte, die den Ruf besaßen, dem Herrscher schaden zu können. Derartige Zerstörungen wurden aber auch kritisch gesehen. So kursieren im Mittelalter Texte, die sich gegen die Zerstörung wenden, da man hier lernen könne, wie die Welt vor den Propheten ausgesehen habe. Heliopolis war, solange noch irgendetwas zu sehen war, offenbar niemandem gleichgültig.

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