Einblicke in den Vorhof der Hölle – Ein Auszug aus Filip Müllers Bericht aus Auschwitz

»Was kann ein Mensch ertragen, was hält er aus? Filip Müller hat nicht nur das Vernichtungslager Auschwitz überlebt. Er hat als Angehöriger des sogenannten ›Sonderkommandos‹ hautnah miterlebt, wie so viele Menschen den grausamen Tod fanden. Angesichts des doppelten Unrechts, das Filip Müller widerfahren ist, und seiner unglaublichen Stärke, nicht nur unfassbaren Terror und Gewalt in Auschwitz zu überleben, sondern davon auch gegen alle denkbaren Widerstände trotz alledem Zeugenschaft ablegen und berichten zu wollen, angesichts dessen ist diese Neuauflage ein kleines und doch so notwendiges wie längst überfälliges Zeichen. [...] Der Stellenwert dieses hier neu aufgelegten Buches kann kaum hoch genug geschätzt werden. Es ist ein historisches Zeugnis: nicht nur als Augenzeugenbericht ›aus der Hölle‹, wie die Tätigkeit im Sonderkommando im hilflosen Versuch, das Geschehen angemessen zu beschreiben, häufig genannt worden ist. Dieses Buch ist zudem in seiner jetzigen, ergänzten und gerahmten Fassung auch ein Dokument der ›Zweiten Geschichte‹ des Nationalsozialismus (Peter Reichel). [...] Filip Müllers Buch ist ein Versuch, das Unvorstellbare zu dokumentieren, auf dass dessen gedacht werde. Möge dieses Buch viele Leserinnen und Leser erhalten sowie die Aufmerksamkeit und Anerkennung bekommen, die Filip Müller verwehrt wurde.« – Aus dem gemeinsamen Grußwort des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, und des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, Dr. Felix Klein.

 

Auszug aus »Sonderbehandlung«

Vom Hof des Krematoriums waren alle Spuren des Grauens der vergangenen Tage beseitigt worden. Auch die Pflastersteine, mit denen der Hof ausgelegt war, waren von den Blutspuren gereinigt worden und glänzten vor Sauberkeit. Hinter der hohen äußeren Betonmauer, in Richtung zur »SS-Fahrbereitschaft«, dem Kraftfahrzeugpark, begann ein riesiger, weit ausladender Baum mit mächtigen Ästen zu grünen. Sein Wipfel sollte heute mit uns zusammen Zeuge einer Aktion werden, der Himmler oder gar der Führer selbst den Namen »Geheime Reichssache« gegeben hatte.

SS-Leute tauchten auf dem Hof auf, alle mit Knüppeln in der Hand. Nach ihnen kam die Lagerprominenz, Aumeier, Grabner und Untersturmführer Hössler sowie ein weiterer SS-Führer, den ich nicht kannte und der das Emblem der Ärzte, den Äskulapstab mit der Schlange, am Ärmel trug. Ich zog daraus den Schluß, daß es sich um einen Arzt handelte. Vergebens versuchte ich dahinterzukommen, was für eine Aufgabe er bei dem zu erwartenden Massaker haben könnte.

Wir standen noch nicht lange auf dem Hof, als eine große Menge Menschen durch das geöffnete Holztor hereinströmte, die meisten in dunklen Kleidern. In Brusthöhe trugen sie rechts den gelben sechszackigen Judenstern. Nach und nach füllten die Menschen die ganze Fläche des Hofes. Sie sprachen polnisch und jiddisch miteinander. Daraus entnahm ich, daß es sich um einen Transport polnischer Juden handelte. Die meisten waren mittleren Alters, es waren aber auch alte Männer, Frauen und Kinder dabei. Alle waren etwas außer Atem und machten den Eindruck, als hätte man sie hierher gehetzt. Diese Annahme wurde durch eine Gruppe alter Frauen bestärkt, die jetzt völlig erschöpft, meistens mit gebeugtem Rücken, durch das Tor hinterhergetrippelt kamen. Offensichtlich hatten sie dem Marschtempo der großen Masse nicht folgen können. Als auch sie auf dem Hof waren, wurde das Hoftor geschlossen.

Nun traten die uniformierten Schergen vor die erschöpfte, ungeduldige, mehrere hundert Menschen zählende Menge. Wie auf Befehl fingen sie an, die Menschen anzuschreien, wobei sie mit ihren Knüppeln herumfuchtelten und den Befehl gaben, alle sollten sich so schnell wie möglich ausziehen. Die Menschen waren völlig verstört. Sicher ahnten sie, daß ihnen etwas Schlimmes bevorstand, aber sie konnten nicht recht einsehen, warum sie sich hier auf dem Hof ausziehen sollten, die Männer vor den Frauen und umgekehrt. Aber die SS-Leute, die ihnen keine Gelegenheit zum Nachdenken geben wollten, schrien in einem fort: »Los, los! Ausziehen! Schneller machen! Los, los! Ausziehen!«

 

Die SS-Leute schrien in einem fort: »Los, los! Ausziehen! Schneller machen! Los, los! Ausziehen!«

 

Jetzt begriff ich, was hier vorging. Irgendeiner mußte auf die Idee gekommen sein, daß es zweckmäßiger wäre, die Menschen nackt in die Gaskammer zu schicken; denn dann brauchte man sie hinterher nicht mehr mühsam und zeitraubend auszuziehen. Außerdem würden die noch Lebenden, wenn sie sich auszogen, ihre Kleidungsstücke nicht beschädigen, weil sie glaubten, daß sie sie noch brauchen würden. Mir wurde klar, daß diese neue Prozedur heute zum ersten Mal erprobt werden sollte.

 

Zum Buch »Sonderbehandlung«

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Zu den Beteiligten

Filip Müller (3. Januar 1922 in Sered, Tschechoslowakei, bis 2013, Westdeutschland) war ein slowakischer Überlebender des Sonderkommandos im KZ Auschwitz-Birkenau, der die Massenvernichtung in den Krematorien und Gaskammern des Lagers miterlebte und später dokumentierte. Seine Erinnerungen an das Sonderkommando machte er der Öffentlichkeit durch sein Buch »Sonderbehandlung« und durch Interviews mit Claude Lanzmann für den bahnbrechenden Dokumentarfilm »Shoah« zugänglich.

 

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