Kai Brodersen: Wir Mitteleuropäer wissen genau, wo das Zentrum der antiken Welt schlug: In Athen und Rom. Sie rücken die Mittelmeerwelt an die Peripherie. Warum?
Stanley M. Burstein: Die meisten Amerikaner würden mit den Europäern darin übereinstimmen, dass Athen und Rom von zentraler Bedeutung für die antike Geschichte sind, und ich würde ihnen nicht widersprechen. Für Historiker ist jedoch die Geschichte das Wichtigste, und ich habe in meinem Buch versucht, eine integrierte Geschichte von Afro-Eurasien vom Pazifik bis zum Atlantik zu schreiben. In einer solchen Geschichte konnte der Mittelmeerraum sowohl in chronologischer als auch in geographischer Hinsicht nicht im Zentrum der Darstellung stehen, da die klassischen Zivilisationen erst vergleichsweise spät in der antiken Geschichte auftraten und bis zum Beginn des 1. Jahrtausends v. Chr. relativ isoliert von den Zivilisationen Ägyptens und des Alten Orients waren.
Kai Brodersen: In der akademischen Fachwelt ist diese neue Sicht bereits anerkannt; bei einem allgemein interessierten Publikum kann dies für Irritation sorgen. Was erklären Sie diesem?
Stanley M. Burstein: Für den Ansatz, den ich in meinem Buch gewählt habe, wurde ich von einem der großen deutschen Historiker des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts inspiriert, von Eduard Meyer, der in seiner Geschichte des Altertums gezeigt hat, dass eine integrierte politische und kulturelle Geschichte Eurasiens möglich ist. Meyer war es auch, der nahelegte, dass die Randlage des Mittelmeerraums im Allgemeinen und Griechenlands im Besonderen eigentlich ein Vorteil war, da sie die Griechen Einflüssen aus Ägypten und dem Nahen Osten aussetzte, ihnen aber die Freiheit ließ, diese auf ihre eigene Weise zu entwickeln. Die Tragödie bestand darin, dass Meyers Einsichten von seinen Nachfolgern nicht weiterverfolgt wurden, weil die Erkenntnisse über die Zivilisationen des antiken Mittelmeerraums und des Nahen Ostens im 20. Jahrhundert geradezu explosionsartig zunahmen.
»Eine integrierte politische und kulturelle Geschichte Eurasiens ist möglich.«
Kai Brodersen: Seit wann beschäftigen Sie sich mit einer globalen Perspektive auf die Zeit zwischen 1000 v. Chr. und 500 n. Chr.?
Stanley M. Burstein: In vielerlei Hinsicht ist dieses Buch, so kompakt es auch ist, der Höhepunkt meiner Karriere. Es spiegelt meine Ausbildung, meine wissenschaftliche Arbeit und meine Lehrtätigkeit wider. Meine Professoren an der University of California, Los Angeles, bestanden in den 1960er Jahren darauf, dass die Geschichte Europas immer im Zusammenhang mit den Kulturen betrachtet werden müsse, mit denen es in Kontakt kam, und meine eigene Forschung konzentrierte sich auf die Erfahrungen der Griechen außerhalb Griechenlands, insbesondere am Schwarzen Meer, in Ägypten und im alten Afrika. Gleichzeitig unterrichtete ich an der Universität fast dreißig Jahre lang Globalgeschichte und half bei der Entwicklung von Lehrplänen und Lehrbüchern dazu. Was das Schreiben dieses Buches besonders aufregend machte, war die Herausforderung, herauszufinden, ob ich all das, was ich während meiner gesamten Laufbahn erforscht und gelehrt hatte, sinnvoll zusammenfassen könnte. Wie gut mir das gelungen ist, müssen die Leserinnen und Leser beurteilen.
Zu den Beteiligten
Stanley M. Burstein ist em. Professor für Alte Geschichte an der California State University, Los Angeles. Seine Universität hat ihn mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem »Outstanding Professor Award« und dem »Excellence Award«. Das vorliegende Buch bietet die Summe seiner Erfahrungen in der Erforschung der antiken Globalgeschichte.
Kai Brodersen ist Professor für Antike Kultur an der Universität Erfurt und Senior Fellow am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg in Greifswald. Er ist Autor zahlreicher Bücher zur Antike und Herausgeber der Reihe »Geschichte kompakt – Antike«.