Lange war Friedrich Schiller das große Idol des deutschen Bildungsbürgertums. Seine Dramen beherrschten die Bühnen, seine Werke gehörten zum Pflichtprogramm des höheren Unterrichts, und seine berühmt-berüchtigten Sentenzen gingen in den Sprichwörterschatz der Nation ein. Seit einigen Jahrzehnten ist der Stern des Dichters allerdings merklich gesunken: Eine Zeit, der das große Pathos ebenso verdächtig geworden ist wie der idealistische Humanismus der Weimarer Klassik, scheint mit ihm nicht mehr viel anfangen zu können. Schillers überragende Stellung im öffentlichen Leben und im Selbstverständnis der Gebildeten gehört unwiderruflich der Vergangenheit an.
Schaden muss ihm das nicht unbedingt. In der gewachsenen Distanz kann auch eine Chance liegen – die Chance auf einen unbefangenen, neugierigen Blick, der Schillers Werk von dem angesammelten Staub zweier Jahrhunderte befreit. Denn dieser Autor, den die Nachwelt so schnell zu einem starren Monument gemacht hat, war in Wirklichkeit ein äußerst beweglicher und unkonventioneller schöpferischer Denker, der sich an der Schwelle der modernen Welt mit Problemen befasste, die heute unter veränderten Vorzeichen immer noch aktuell sind. Das gilt vor allem für sein großes Lebensthema, die freie Selbstbestimmung des Menschen.
Schillers Freiheitsenthusiasmus war alles andere als eine naive Schwärmerei. Als Anthropologe und studierter Mediziner, aber auch in seinen Schriften zur Ästhetik des Schönen und des Erhabenen dachte er darüber nach, wo in dem komplizierten Zusammenspiel von Körper, Seele und Geist überhaupt Platz für die Autonomie eines freien Willens sei. Und seine Dramen inszenieren immer wieder Konflikte zwischen den Ansprüchen eines Individuums, das sich ungehindert selbst verwirklichen will, und dem Druck der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse. So wird die Bühne von den Räubern bis zu Wilhelm Tell zu einem förmlichen Experimentallabor für gelingende oder scheiternde Kämpfe um Selbstbehauptung und Freiheit. Schiller lässt stürmische junge Männer auftreten, die gegen patriarchalische Autoritäten rebellieren, Frauen, die mit den Rollenzwängen der Geschlechterordnung hadern, charismatische Machtmenschen, denen die Politik als Spielfeld ihrer Größenphantasien dient, aber auch Figuren, die von einer brüderlichen Gemeinschaft der Freien und Gleichen träumen. Und seine subtilen Überlegungen zur Poetik des Dramas, die diese Stücke flankieren, kreisen ebenfalls um Freiheit, nämlich um die humane Freiheit des Zuschauers, der im ästhetischen Erleben alle seine sinnlichen und geistigen Fähigkeiten genussvoll betätigen soll.
Anknüpfungspunkte für ein Gespräch mit Schiller gibt es also zur Genüge. Aber ein solcher Dialog kann erst dann wirklich fruchtbar werden, wenn er auch den historischen Abstand reflektiert, der uns mittlerweile von diesem Autor trennt. Schiller knüpfte an unterschiedliche Traditionsbestände und zeitgenössische Denkströmungen an, ohne deren Kenntnis vieles an seinem Werk unverständlich bleiben muss. Das gilt nicht nur für die Philosophie und das Menschenbild der Aufklärung, sondern beispielsweise auch für die Geschichte des europäischen Dramas seit der Antike oder für die Lehren der Rhetorik, denen seine Sprache noch stark verpflichtet ist. Schiller war mit dem anthropologischen und psychologischen Wissen des späten 18. Jahrhunderts vertraut, er hat sich mit dem Epochenereignis der Französischen Revolution und mit den Schriften Immanuel Kants auseinandergesetzt, aber er hat als Dramatiker auch nie die Möglichkeiten der zeitgenössischen Theaterbühne und die Erwartungen seines Publikums aus den Augen verloren.
Liest man seine Werke vor dem Hintergrund dieses komplexen Geflechts aus kulturellen Diskursen, Mentalitäten, Bildungsinhalten und zeitgeschichtlichen Ereignissen, lassen sich die beiden gefährlichen Klippen jeder Schiller-Rezeption vermeiden: die Neigung, den Dichter als bloßes Museumsstück zu behandeln, und die Versuchung krampfhafter Aktualisierungen. Der unerschöpfliche Reiz einer Begegnung mit Schiller liegt gerade in der Dialektik von Nähe und Ferne, von Fremdheit und unvermuteter Gegenwärtigkeit. Wer sich auf sie einlässt, wird mit ästhetischen und intellektuellen Erfahrungen belohnt, die allzu lange von den Klischees eines ehrfurchtsvollen Klassikerkults verstellt worden sind.
Über das Buch
Friedrich Schiller – ein weltfremder Idealist und pathetischer Moralprediger, den man heutzutage höchstens noch parodieren kann? Hinter diesen Klischees verbirgt sich in Wirklichkeit ein ungeheuer vielseitiger schöpferischer Denker, der eine ungebrochene Faszination ausstrahlt. Schillers Lebensthema ist die Freiheit des Menschen: die politische, die moralische und die ästhetische. Von den Räubern bis zu Wilhelm Tell erkunden seine Dramen, was Freiheit ist, wie sie sich verwirklichen lässt und woran sie scheitern kann. Unter diesem Gesichtspunkt werden seine Bühnenwerke hier ausführlich vorgestellt. Dabei kommt Schiller auch als Historiker, als philosophischer Ästhetiker und als moderner Anthropologe zu Wort.
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Zum Autor
Ulrich Kittstein ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Mannheim. Für seine Habilitation wurde er 2006 mit dem Preis der Universität Mannheim für Sprache und Wissenschaft ausgezeichnet. Sein Arbeitsgebiet ist die deutsche Literatur vom 18. Jh. bis zur Gegenwart mit den Schwerpunkten Lyrik, historisches Erzählen, Friedrich Schiller, Eduard Mörike, Gottfried Keller und Bertolt Brecht.