Geoffrey Parker und Kaiser Karl V. – Ein Interview

Ein Interview von Daniel Zimmermann (wbg) mit dem Bestsellerautor Geoffrey Parker (Autor von »Der Kaiser. Die vielen Gesichter Karls V.«)

Daniel Zimmermann: Lieber Mr. Parker, schon vor 500 Jahren versuchte der Humanist Páez de Castro, das Leben und die Taten von Kaiser Karl niederzuschreiben; was sehr ambitioniert begann, konnte am Ende nicht abgeschlossen werden. Aber Ihre große Biografie »Der Kaiser« ist jetzt fertiggestellt. Wie lange haben Sie sich intensiv mit der Persönlichkeit Karls beschäftigt?

Geoffrey Parker: Ich kann mich noch an den Moment erinnern, als ob es gestern gewesen wäre, als ich beschloss, die Biografie des Kaisers zu schreiben. Im Dezember 2009 arbeitete ich mich im prachtvollen Lesesaal der Hispanic Society of America durch den Katalog der dortigen wunderbaren Sammlung von Handschriften Philipps II. für meine Biografie des Königs, die später unter dem Titel Imprudent King. An new Life of Philip II veröffentlicht wurde (Yale University Press, 2014), als mir Manuscript B 2955 auffiel: »Anweisungen Karls V. an seinen Sohn Philipp, 6. Mai 1543, Kopie«. Das Dokument – ein Schreiben des Kaisers für seinen Sohn, mit Ratschlägen, wie Spanien zu regieren sei, formuliert kurz vor Karls Abreise zu einem militärischen Unternehmen gegen Frankreich – ist weithin bekannt, aber nur aus verschiedenen Abschriften. Aber die wichen teils erheblich voneinander ab, und das Original war offensichtlich verschwunden. Kaum war Manuscript B 2955, gebunden in luxuriöses rotes Maroquinleder mit Goldprägung, im Lesesaal eingetroffen, wurde mir klar, dass es keine »Kopie« war, wie der Katalog behauptete, sondern das verschollene Original. Insgesamt hatte Karl 48 Blätter Kanzleipapier – fast 100 Seiten – mit seiner eigenen schrecklichen Handschrift vollgeschrieben.

Viele Wörter und Sätze waren durchgestrichen, da er bemüht gewesen war, genau zu vermitteln, was er meinte – man darf nicht vergessen, dass Kastilisch nicht seine Muttersprache war. Zuerst legte er seine Außen- und Innenpolitik dar und dann (was am interessantesten war) ließ er sich ausführlich über die Stärken und Schwächen jedes seiner Minister aus, auf deren Rat sein Sohn sich verlassen müsse »für den Fall [des Todes], mein Sohn, falls ich gefangen werde oder auf dieser Fahrt festgehalten werde«. Die zahlreichen Hinzufügungen und Korrekturen auf fast jeder Seite zeigten die ungeheure Sorgfalt, die der Kaiser darauf verwandte, seinen Sohn und Erben in der Kunst des Regierens zu unterweisen. Etwas Vergleichbares hatte ich noch nie gesehen. Und da beschloss ich, seine Biografie zu schreiben. Und ich brauchte zehn Jahre!

 

Daniel Zimmermann: Welches sind die besonderen Schwierigkeiten, wenn man über das Leben Karls V. schreibt?

Geoffrey Parker: Strukturell ist eine Biografie einfach: Man fängt mit der Geburt des Protagonisten an (in diesem Fall in Gent, Belgien, im Jahr 1500) und hört mit seinem Tod auf (in Yuste, Spanien, im Jahr 1558). Allerdings stieß ich in Karls Fall auf einen medizinischen Eingriff, als er noch im Mutterleib war; und es gab einen Franziskanermönch in Guatemala, der von einer Vision berichtete, in der Karls Seele im Jahr 1562, vier Jahre nach seinem Tod, vom Fegefeuer ins Paradies aufstieg.

Die Tatsache, dass die Vision sich in Guatemala ereignete, veranschaulicht eine der drei besonderen Schwierigkeiten, wenn man eine Biografie Karls V. schreibt: Er regierte das erste transatlantische Imperium in der Geschichte und Material über ihn ist in vielen Archiven, Museen und Bibliotheken in ganz Europa und Spanisch-Amerika erhalten. Die zweite Schwierigkeit ist die Paläografie: Selbst seine Geschwister beklagten sich manchmal, dass sie nicht lesen könnten, was er geschrieben hatte – aber sie bemühten sich beharrlich, bis sie es herausgefunden hatten, und genau so müssen es Historiker halten. Die dritte Schwierigkeit ist der Umfang. Karl unterzeichnete mindestens 100 000 offizielle Dokumente in verschiedenen Sprachen (Flämisch, Französisch, Deutsch, Italienisch, Latein und Spanisch) und hinterließ mehr handschriftliches Material als irgendein anderer Herrscher aus dem Europa der Renaissance.

 

Daniel Zimmermann: Was ist neu an Ihrer Darstellung?

Geoffrey Parker: Leider kann ich nicht erklären, warum Karls Seele vier Jahre im Fegefeuer schmachtete, obwohl der Geistliche, der die Vision aufzeichnete, beteuerte, es sei, »weil er Luther nicht bestrafte, als er ihn hätte ergreifen können«, nämlich auf dem Reichstag zu Worms 1521. Aber der ausdauernde Biograf kann dafür viele andere Geheimnisse aufdecken.

Meine Biografie stützt sich hauptsächlich auf Dokumente aus mehreren Archiven, manche mit neuen Merkmalen (wie die Anweisungen von 1543) und andere bislang unbekannt. So fand ich beispielsweise den Entwurf eines Schreibens, das Karl Anfang Juni 1527 an den Befehlshaber seiner Armeen in Italien, den Herzog von Bourbon, schickte – also kurz bevor er von der Plünderung Roms und dem Tod Bourbons bei dem Überfall erfuhr, was zeigt, dass Karl sowohl die Eroberung Roms als auch die Festnahme von Papst Clemens genehmigt hatte, ungeachtet der Tatsache, dass er beides später wiederholt und kategorisch leugnen würde.

Außer auf Dokumente und Visionen stütze ich mich auf die medizinischen Untersuchungen eines vom mumifizierten Leichnam des Kaisers abgetrennten Fingers. Die klinische Analyse erbrachte zwei Erkenntnisse. Erstens hatte die Gicht seine Gelenke zersetzt, was ihm unerträgliche Schmerzen bereitet haben muss – über die Karl ja auch beständig klagte –, und das in einem Zeitalter, in dem es keine Schmerzmittel gab. Zweitens erlitt der Kaiser einen doppelten Malaria-Anfall durch einen besonders aggressiven Malaria-Erregerstamm, der ihn tötete. Mit ziemlicher Sicherheit bekam er die Malaria nach seinem Rückzug in das Kloster von Yuste, wahrscheinlich infizierte er sich durch Stechmücken, die in den Fischteichen brüteten, die er direkt unter seinen Schlafzimmerfenstern hatte anlegen lassen.

Kurz, meine Biografie stützt sich auf Quellen, die von Dokumenten bis zu Fingern reichen.

 

Daniel Zimmermann: Eine wichtige Rolle in Ihrer Biografie spielt Kaiser Maximilian. Warum?

Geoffrey Parker: Ich glaube, dass Maximilian einen bedeutenden Einfluss auf seinen Enkel ausübte – im Guten wie im Schlechten. Beide Elternteile Karls – Philipp von Burgund und Johanna – verließen die Niederlande, als Karl sechs Jahre alt war, und keiner kehrte je zurück. Nach Philipps Tod 1506 wurde Maximilian zum einzigen männlichen Vorbild für den jungen Karl, und Maximilians Tochter Margarete wurde zur Ersatzmutter für ihren Neffen und ihre Nichten, die sie in ihrem Palast in Mechelen großzog – den Maximilian für sie gekauft hatte. Von dort aus regierte sie auch die Niederlande in seinem Namen. Der Kaiser besuchte seine Enkelkinder fünf Mal, wobei er jedes Mal mehrere Monate mit ihnen verbrachte, und die Prägung ihrer Wertvorstellungen und ihrer Haltung war ihm ein besonderes Anliegen. So schärfte er ihnen etwa ein, den Franzosen niemals zu trauen. Als er nach Deutschland zurückkehrte, vermittelte er Margarete seine Ansichten durch Briefe, in denen er ihr sagte, was sie tun und lassen sollte, und durch seine Memoiren, die er ausdrücklich verfasste, um Karl – dem sie überreicht wurden – zu zeigen, wie er als Herrscher Erfolg hätte (beispielsweise, wie wichtig es sei, die Sprachen seiner Untertanen zu erlernen). Aber Maximilian gab auch in mancherlei wichtiger Hinsicht ein schlechtes Beispiel ab: Er brach Versprechen, er war sich seiner Verwandten sicher und vor allem verfolgte er eine Politik, die er sich nicht leisten konnte. Karl sollte es ihm in allen drei Belangen gleichtun!

 

Daniel Zimmermann: Der bedeutende deutsche Historiker Leopold von Ranke behauptete, die Türken hätten die lutherische Reformation gerettet. Stimmen Sie zu?

Geoffrey Parker: Wie üblich hatte Ranke recht: Ohne die militärische Bedrohung durch die Türken hätte Karl die Reformation mit Sicherheit unterdrückt – und das wussten die protestantischen Führer! Im Jahr 1529 informierte der Landgraf Philipp von Hessen Luther, dass er und andere Fürsten Karl keinen militärischen Beistand gegen die Türken leisten würden, wenn Karl ihnen nicht religiöse Toleranz gewährte. Übrigens stimmt wahrscheinlich auch das Gegenteil: Der Kaiser hätte die Türken aus Ungarn vertreiben können, wenn er den vollen militärischen Beistand von allen deutschen Herrschern erhalten hätte.

 

Daniel Zimmermann: Manche haben Karl als »den ersten Europäer« gerühmt. Stimmen Sie zu?

Geoffrey Parker: Auf keinen Fall! Der französische Präsident Charles de Gaulle hielt 1962 eine Rede, in welcher er den Kaiser in die Liste derjenigen aufnahm, die »von der europäischen Einheit geträumt« hätten. Solche Behauptungen überzeugten offensichtlich die Regierungen Belgiens und Spaniens, denn beide gaben in den 1980er-Jahren (als es so aussah, als würde der Écu und nicht der Euro die Gemeinschaftswährung Europas) Écu-Münzen aus, die Karl zeigten, wie Tizian ihn gemalt hatte: zu Pferde bei Mühlberg, als seine spanischen Truppen den deutschen Lutheranern eine vernichtende Niederlage zufügten – ein merkwürdig spalterisches Bild, das da für die Europäische Union ausgesucht wurde! Im Jahr 1994 hielt Enrique Barón Crespo, der vormalige Präsident des Europäischen Parlaments, einen Vortrag mit dem Titel »Das Europa Karls V. und das Europa von Maastricht«. Darin behauptete er, dass Karl »ein Europa schuf, das im Wesentlichen mit der Europäischen Gemeinschaft von heute übereinstimmte, mit Ausnahme von Frankreich« – eine so erhebliche Ausnahme, dass sie die Parallele ab absurdum führte!

De Gaulle und Barón ignorierten die Mahnung des angesehenen deutschen Historikers Peter Rassow aus dem Jahr 1958, dem vierhundertsten Todesjahr des Kaisers: »Wer will eine gescheiterte Persönlichkeit als ideellen Führer anerkennen? Der historische Karl eignet sich nicht zur Galionsfigur für das Schiff der Europa-Bewegung.«

 

Daniel Zimmermann: Was, Mr. Parker, ist in Ihren Augen Karls größte Leistung? Was war sein tragischstes Versagen?

Geoffrey Parker: Auf der positiven Seite ist zu verbuchen, dass Karl 40 Jahre lang mit beträchtlichem Erfolg das erste transatlantische Imperium in der Geschichte regierte. Nur wenige andere europäische Herrscher übten so viel Macht über so lange Zeit aus. Zudem tat Karl es, ohne dass er von Präzedenzfällen profitieren konnte, die ihm geholfen hätten, mit den Problemen, vor denen er stand, fertigzuwerden – Aufrührer, die Reformatoren, ausländische Feinde, die schiere Entfernung. Er verfuhr nach der Trial-and-Error-Methode, und obwohl einige Fehler gravierend waren (beispielsweise das Versäumnis, Franz I. nach dessen Gefangennahme in der Schlacht bei Pavia bedeutsame Zugeständnisse abzuverlangen), gehörte zu seinen Erfolgen die Ausweitung seiner Autorität von ein paar karibischen Inseln, eines Gebiets, halb so groß wie Spanien, bei seiner Thronbesteigung auf ein Gebiet des amerikanischen Festlands, das vier Mal so groß war wie Spanien zum Zeitpunkt seiner Abdankung.

Negativ schlägt zu Buche, dass seine Leistungen auf einigen unappetitlichen Praktiken beruhten. Man denke nur an seine entsetzliche Behandlung seiner Mutter Johanna (manchmal »Johanna die Wahnsinnige« genannt), die er in einem Palast in Gefangenschaft hielt. Er bestätigte die von Johannas Vater, Ferdinand dem Katholischen, erschaffene »fiktive Welt«, indem er ihr fälschlicherweise versicherte, dass Menschen am Leben wären, nachdem sie gestorben waren; und er plünderte ihre in Kisten verstauten Besitztümer (und ließ an ihrer Stelle Backsteine zurück, um seinen Diebstahl zu vertuschen). Wenn es ihm passte, brach auch er Versprechen, die er anderen gegeben hatte, selbst seinen Geschwistern. Und er schwor wider besseres Wissen heilige Eide, dass er Dinge nicht getan hatte, derer man ihn bezichtigte (beispielsweise billigte er stillschweigend die Ermordung zweier französischer Gesandter 1541 und erzählte dann wiederholt unter Eid die Unwahrheit darüber).

Die Abwägung von Negativem und Positivem wird erschwert durch Karls unbestrittenes Charisma: Wir besitzen Beschreibungen, wie er »auf einen Raum wirkte«, sodass »am Ende jeder dort sein Sklave wurde«; und selbst die Geschwister, die er belogen hatte, sahen in ihm weiter »den Vater von uns allen, den einzigen, der uns retten kann«. Er war also ein Mensch mit Fehlern, wie wir alle, aber die Fehler sind offensichtlicher und krasser wegen seiner Berühmtheit (wir besitzen Hunderte Beschreibungen von ihm) und wegen seiner Selbstbeobachtung (wir besitzen eine Menge Schriftstücke, in denen er im stillen Kämmerlein das Pro und Kontra einer politischen Zwangslage aufschrieb, bevor er seine Entscheidung traf. Er ist daher eine ständige Quelle von Überraschungen, unendlich faszinierend.

Daniel Zimmermann: Danke, Mr. Parker, vielen Dank für dieses Interview!

 

Zu den Beteiligten

Geoffrey Parker, geb. 1943, ist einer der renommiertesten Altmeister zur Geschichte der Frühen Neuzeit. Er lehrte in Cambridge, dann in den USA an der Yale University und der Ohio State University. Für seine Forschungen wurden Parker zahlreiche wissenschaftliche Ehrungen und Mitgliedschaften zugesprochen: Er ist Fellow der British Academy, Mitglied der Real Academia de la Historia, der Königlich Niederländischen Akademie der Wissenschaften und Mitglied des Ordens von Alfonso X. Er erhielt das Großkreuz des Ordens von Isabella der Katholischen und ihm wurden Ehrendoktorwürden der Vrije Universiteit Brussel, der Katholischen Universität Brüssel und der Universität Burgos verliehen. Im Jahr 2012 gewann er den A.H.-Heineken-Preis für Geschichte, der alle zwei Jahre dem Wissenschaftler verliehen wird, der als einflussreichster Vertreter seines Fachs gilt.

Daniel Zimmermann lebt in Mainz und ist Programmmanager im wbg-Lektorat Geschichte. Dort ist er zuständig für die Programme wbg Theiss, wbg Edition, wbg Academic und wbg Zabern.

Tags: wbg, Beitrag
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