Der Krieg in der Ukraine und die heraufziehende, damit zusammenhängende Energiekrise akzentuieren eine unauflösbare Zwangslage, die sich über Jahrhunderte aufgebaut hat und die seit der Umwandlung von Wasserkraft in grünen Strom eine Entscheidung zwischen zwei umweltrelevanten Themenkomplexen verlangt. Ganz gleich, wie die Entscheidung ausfällt, die Umwelt wird immer darunter leiden.
Herbert Friedmann stellt in seinem Buch »Vom Wildfluss zur Kraftwerkstreppe – Umweltgeschichte des Lechs« dar, wie sich seit der Sesshaftwerdung des Menschen in der Jungsteinzeit die Kalamität zunächst kaum merklich entwickelt hat, spätestens mit Flusskorrekturen und der Erzeugung von elektrischem Strom jedoch unumkehrbare Weichenstellungen erfolgt sind und heute das Dilemma weitgehend zu Gunsten einer klimafreundlichen Stromgewinnung und gegen das Ökosystem Wildfluss entschieden ist. Ob die gegenwärtigen Renaturierungsmaßnahmen das Ungleichgewicht wieder etwas mehr zu Gunsten eines ökologisch gesünderen Flusses verschieben können, muss die Zukunft weisen.
Die ökologisch begründete Notwendigkeit, die Stromerzeugung auf der Grundlage fossiler Brennstoffe einzustellen und stattdessen erneuerbare Energiequellen zu nutzen, muss durch den Verzicht auf immer verfügbaren, regelbaren Strom bezahlt werden. Unsere moderne Gesellschaft benötigt aber zu jeder Zeit ausreichend Energie! Photovoltaikanlagen liefern jedoch nur in etwa 1000 Stunden erneuerbare Energie im Jahr, Windkraftanlagen an Land bringen 2500 bis 3000 Stunden volle Leistung, das Jahr hat jedoch mehr als 8000 Stunden! Weil die Speicherung des Stroms nach wie vor nicht in dem Umfang möglich ist, wie es für unsere Industriegesellschaft notwendig wäre, werden Möglichkeiten zur Erzeugung regelbarer Energie aus erneuerbaren Quellen händeringend gesucht. Und Wasserkraft ist gegenwärtig die einzige bedeutende CO2-freie Art der Stromerzeugung, die eine problemlose Speicherung erlaubt und regelbar ist. Mit einem Wort, Strom aus Wasserkraft ist ein großer Gewinn bei der Bekämpfung des anthropogen verursachten Klimawandels!
Diesem Pluspunkt der CO2-freien Stromerzeugung stehen die ökologischen Kreisläufe eines Wildflusses wie des Lechs entgegen. Er war der letzte Wildfluss nördlich der Alpen. Durch die vielen Staustufen wurde er in eine Seenkette, eine Kraftwerkstreppe umgewandelt. Das hatte Folgen. Das Abflussgeschehen wurde komplett verändert. Die jährlich auftretenden sommerlichen Hochwässer sind einem weitgehend gleichförmigen Abfluss gewichen, der nur noch durch den Strombedarf und die Preisentwicklung an der Strombörse gesteuert wird. Nur bei extremen Abflüssen kommt es zu Überflutungen, die dann allerdings schwere Schäden anrichten.
Der Lech besaß vor den Eingriffen des Menschen ein oft kilometerbreites Bett, in dem zahlreiche einzelne Gerinne zwischen Kies- und Sandbänken um mit Weiden und Tamarisken bestandene Inseln mit ganz unterschiedlicher Strömungsgeschwindigkeit zu Tal flossen. Bei jedem Hochwasser veränderte sich das Flussbett, Kiesbänke wurden überflutet und umgelagert, teilweise veränderten auch die Ufer ihre Form.
Das Flussbett des Lech. © Herbert Friedmann
Heute ist der Lech eine Abfolge von kanalisierten Gerinnen und Stauseen. Dadurch wird die longitudinale Durchgängigkeit für Fische und Wassertiere, Kies und Sand, Pflanzenteile und Nährstoffe unterbunden, die Fließgeschwindigkeit geht zurück, Wassertemperatur, Sauerstoff- und Nährstoffgehalt ändern sich. Die ursprüngliche Tier- und Pflanzenpopulation eines Wildflusses muss der eines eher seeartigen Gewässers weichen. Zahlreiche weitere Veränderungen kommen hinzu. Durch Flussbegradigung und Deichbau wurde der Lech von seiner Aue getrennt. Kiesentnahme und geändertes Fließverhalten beschleunigten die Tiefenerosion des Lechs. Der Grundwasserspiegel sank und auch die spezielle Auenvegetation mit einer charakteristischen Tierwelt verschwand. Durch die Abtrennung der Aue verschärfte sich auch die Hochwassergefahr.
Generell kann man sagen, dass mit einer wachsenden Bevölkerung, mit steigender wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, perfektionierter staatlicher Verwaltung und den enorm vergrößerten technischen Möglichkeiten die Eingriffe in den Wasserhaushalt des Lechs exponentiell gewachsen sind. Dies geschah seit der Sesshaftwerdung des Menschen erst sehr, sehr langsam, seit der planmäßigen Flusskorrektur und ganz besonders seit der Industrialisierung und speziell seit dem Bau von Wasserkraftwerken wurde jedoch das Ökosystem Wildfluss zerstört!
Heute hat man die Probleme erkannt und versucht, durch Renaturierung des Flusses die schlimmsten Schäden zu korrigieren. Das eingangs genannte Dilemma zwischen ökologisch gesundem Wildfluss und einer – ebenfalls aus ökologischer Sicht sehr positiven – CO2-freien Stromerzeugung lässt sich jedoch leider nicht vollständig auflösen.
Über das Buch
Seit der Mensch sesshaft wurde, greift er in den Wasserhaushalt ein. Am Beispiel des Lechs, der bis ins 20. Jahrhundert als letzter Wildfluss der nördlichen Alpen galt, skizziert Friedmann zunächst die natur- und kulturgeographische Ausgangssituation. Waren die anfänglichen Eingriffe in die Hydrosphäre noch unbewusst, so sind spätestens seit römischer Zeit mit wachsender Bevölkerung, besseren technischen Möglichkeiten und größerer Finanzkraft die Veränderungen zielgerichteter: Bewässerung, Hochwasserschutz, Flusskorrektur und die Okkupation der Flussaue, Flößerei, Kiesgewinnung, Wasserversorgung und Abwasser und nicht zuletzt die Nutzung der Wasserkraft haben den Wildfluss in eine Kraftwerkstreppe verwandelt und sein Ökosystem zerstört. Dem vernichteten Flussökosystem steht die Gewinnung von ökologisch wertvoller erneuerbarer Energie gegenüber. Heute versucht man, durch Renaturierung das Dilemma aus grünem Strom einerseits und zerstörtem Wildfluss andererseits aufzulösen.
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Zu den Beteiligten
Dr. rer. nat. Herbert Friedmann, geb.1951, leitete nach dem Studium der Geowissenschaften in Würzburg die Forschungsabteilung eines Ingenieurunternehmens und beschäftigt sich jetzt mit den ökologischen Auswirkungen menschlichen Handelns vorrangig in der Hydrosphäre.