Matthias Claudius: Anders, als wir ihn uns vorstellen
Bei gutem Wetter konnte man ihn in der Chaussee vor seinem Wandsbeker Haus mit einer Schlafmütze auf und ab gehen sehen. Fremden trat er in einem rotbraunen Nachtrock mit gelben Punkten entgegen. Er trug verrutschte Strümpfe und Plüschhosen, die ihm auf den Hüften hingen; Hosenträger hatte er keine. Perücken setzte er nie auf, auch mit dem Kämmen der Haare gab er sich selten ab. Seine Mahlzeiten waren frugal, er versuchte autark und nachhaltig von den Früchten seines Gartens und im Einklang mit der Natur zu leben. Mit hierarchischen Arbeitsverhältnissen kam er nie zurecht, und zu Geld hatte er keinerlei Beziehung – lieber ließ er im Gras liegend den lieben Gott einen guten Mann sein.
Matthias Claudius lebte anders, als wir ihn uns vorstellen. Kinderlieb war er gewiss, aber auch ein gestrenger Patriarch, humorvoll, aber auch grantelnd, von aufbauendem Optimismus wie von Zweifeln und Ängsten geplagt. Er war Monarchist und Volksfreund, suchte die Nähe zu Adligen ebenso wie den Kontakt mit den schwarzen Zwangsarbeitern der Wandsbeker Kattunfabrik. Er trat ein für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und lehnte die Französische Revolution verbittert ab. Intellektuell und hochgebildet, unterlief er die Standesgrenzen seiner Zeit durch die Heirat mit der Tochter eines einfachen Zimmermannes. Er konnte reimen wie ein kleines Kind, aber auch Zeilen schreiben, die schon an Dadaismus und Dekonstruktivismus grenzten. Er pries in seiner Dichtung lebenslang den himmlischen Fürsten und suchte ihn, zweifelnd und vor Todesangst schlotternd, nicht selten vergebens.
Anders aber war vor allem der Stil, den er in den Journalismus seiner Zeit einführte. Sein Wandsbecker Bothe war, wenngleich kaum gelesen, alles andere als ein bedeutungloses Provinzblatt. Claudius entfaltete hier, wie auch in den anderen Zeitungen, für die er schrieb, bereits das Programm einer modernen Journalistik, die sich erst Jahrzehnte nach ihm professionell entfalten sollte. Ihre wichtigsten Charakteristika waren Unabhängigkeit von Geldgebern und äußeren Interessen, Nachdenken über das eigene Handeln, Vielfalt, Relevanz sowie Originalität, Unterhaltsamkeit und Verständlichkeit.
„Der andere Claudius“ von Gunter Reus nimmt die Leserinnen und Leser mit durch Leben und Werk eines unserer Zeit sehr nahestehenden Publizisten, der weit mehr war als der Schöpfer des berühmten Abendlieds und der in der Literatur- und Journalismusgeschichte zu Unrecht immer wieder auf die Rolle des romantischen und gottesfürchtigen „Volksdichters“ reduziert wurde. Das Besondere: Die fünf weitgehend für sich stehenden Kapitel unterbricht Reus mit kleinen fiktiven Einschüben: In erdachten Monologen kommentieren Claudius selbst, Mitglieder seiner Familie sowie tatsächliche und erfundene Zeitgenossen Person und Schaffen des Wandsbeker Autors. So enthält das wissenschaftlich grundierte, aber leicht und verständlich geschriebene Buch eine besondere narrative und unterhaltsame Note.
Zu den Beteiligten
Dr. Gunter Reus ist außerplanmäßiger Professor für Journalistik an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Nach Studium (Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Germanistik, Kunstgeschichte) und Promotion in Mainz lehrte er fünf Jahre in Frankreich als DAAD-Lektor an der Universität Lille. Reus war als freier Journalist für die Allgemeine Zeitung und den Südwestfunk in Mainz tätig. Nach einem Volontariat arbeitete er als Redakteur der Taunus Zeitung Bad Homburg und der Frankfurter Neue Presse, bevor er zur Journalistenausbildung in die Hochschule zurückkehrte. Die Schwerpunkte seiner Arbeit liegen auf den Gebieten Kulturjournalismus, Journalismusforschung, Sprache und Stil der Massenmedien.