Hat Aldous Huxley recht behalten?

Aldous Huxley zum 125. Geburtstag

Die Mondlandung hat er nicht mehr miterlebt – genauso wenig, wie der Mann, der das Apollo-Programm ins Rollen brachte. Aldous Huxley und John F. Kennedy starben fast zeitgleich am 22. November 1963. Aldous Huxley starb friedlich, liebevoll begleitet von seiner zweiten Frau Laura, während John F. Kennedy einen gewaltvollen Tod erlitt. John F. Kennedy sollte recht behalten – was den Mond betraf. Noch vor Ende des Jahrzehnts hatten die Amerikaner zwei Menschen auf den Mond gebracht. Und Aldous Huxley? Hat er recht behalten?

1984 oder Schöne Neue Welt?
Sein berühmtestes Buch, Schöne Neue Welt – zum Schlagwort geworden für bedenkliche technologische und gesellschaftliche Entwicklungen – ist schnell zum prophetischen Meisterwerk der Moderne avanciert. Gern wird die Frage gestellt: Wer hatte recht – George Orwell mit seinem Roman 1984 oder Aldous Huxley mit seiner schrecklich Schönen Neuen Welt? Gewöhnlich geht die Einschätzung dahin, dass die westlichen zivilisierten Gesellschaften sich dahin entwickeln, was Aldous Huxley 1932 in das Jahr 2540 projiziert hatte. Orwells düstere Vision von der menschenverachtend brutalen totalitären Kontrolle und Unterdrückung ist für Teile der Welt und aktuelle Tendenzen in und nah an Europa gewiss zutreffend. Selbst Huxley schrieb allerdings 1949 direkt nach Erscheinen von Orwells negativer Utopie an den jüngeren Autor: „Ich muss Ihnen nicht sagen, wie ausgezeichnet und ungemein wichtig ihr Buch ist. Allerdings glaube ich, dass der Albtraum, den Sie in 1984 schildern, sich eher zu dem Albtraum wandeln wird, den ich mir in Schöne Neue Welt ausgemalt habe.“ Huxley war sich sicher, dass Gentechnik, Konditionierung, und die Spaßgesellschaft mit Sex, Drogen und Rock’n’Roll die Masse der Menschen gefügiger und zu leistungsfähigeren Arbeitstierchen machen würden, als Angst und Gewalt. Orwell hat diese Einwände sicherlich nicht offenherzig angenommen. Jahrelang rümpfte er über den älteren Kollegen, dessen Bücher, wie er meinte, mehr und mehr nach Sex stänken, die Nase. Das mag damit zusammenhängen, dass Huxley an der Eliteschule Eton für ein kurzes unglückliches Jahr der Lehrer von George Orwell gewesen war. Huxley war kein guter Lehrer.

A Beautiful Mind
Dafür war er in anderen Dingen überragend. Noch bevor er 30 Jahre alt wurde, hatte sich Aldous Huxley in den 1920er Jahren einen Ruf als einer der schärfsten Intellektuellen, als frecher Satiriker und feinsinniger Kunstkritiker und Feuilletonist erworben. Für viele seiner Generation, die nach den Stahlgewittern des 1. Weltkriegs desillusioniert in die Zukunft blickten, war er ein befreiender frischer Wind, der den Staub und Muff des verklemmten viktorianischen Zeitalters von den Kommoden blies, einer, der die Traumata und Zweifel seiner jungen Zeitgenossen formulierte. Noch bevor er mit Schöne Neue Welt 1932 einen Klassiker landete, hatte er sich mit seinen ersten bissigen und subtilen Romanen und seinen cleveren und vergnüglichen Essays bereits einen Platz in der Weltliteratur ergattert. 1938 wurde er zum ersten (und nicht zum letzten) Mal für den Literaturnobelpreis nominiert. Dabei wollte er gar nicht Schriftsteller werden.

Hätte ihn in der Kindheit nicht eine Augenentzündung ereilt, die ihn für sein Leben fast blind zurückließ, wäre Aldous wahrscheinlich ein weiterer renommierter Naturwissenschaftler geworden – so wie praktisch alle Huxleys: Sein berühmter Großvater T. H. Huxley war Biologe und die „Bulldogge Darwins“, einer der ersten Verteidiger der Evolutionstheorie. Sein sieben Jahre älterer Bruder Julian folgte in den Fußstapfen des Großvaters, wurde Biologe und als solcher Mitbegründer der UNESCO – und als Popularisierer von Wissenschaft ein Vorreiter von David Attenborough. Aldous’ Halbbruder Andrew erhielt 1963 Nobelpreis für Medizin, Julians Sohn Francis wurde Botaniker und Anthropologe und Aldous’ Sohn Matthew Epidemiologe und Anthropologe. Zwischen Medizin und Biologie lag offenbar das Spektrum der Huxleys. Aldous wollte Medizin studieren.

Zu der Zeit, als er sich in Oxford zum Studium einschrieb, konnte er bereits wieder einigermaßen sehen, allerdings nicht genug, um Mediziner zu werden. Während Oxford seine Studenten an die Fronten des 1. Weltkriegs verlor, studierte der dort zurückgelassene Aldous englische Literatur. Das leidenschaftliche Interesse für medizinischen Fortschritt und Gesundheit hat ihn allerdings nie verlassen und sollte in seinen späteren Studien eine zentrale Rolle spielen. Während Huxley in seinen frühen Romanen die Gespenster der Moderne auf seinen Seziertisch legte, begann er sich neben Literatur und Kunst immer mehr mit Soziologie, den Naturwissenschaften und allgemeingesellschaftlichen Fragen zu beschäftigen. Nachdem er 1937 – praktisch zeitgleich mit Thomas Mann und seiner Familie (man kannte sich) – nach Kalifornien übersiedelt war, gesellten zu den Romanen immer mehr philosophisch-soziologische Bücher, wie Ziele und Wege und Die ewige Philosophie. Während in seinen frühen Ideenromanen wie bei Thomas Mann intellektuelle Aspekte nur eine Rolle spielten, benutzte er später ähnlich Sartre und Camus den Roman immer mehr als philosophisches Experimentierfeld. Der Höhepunkt schließlich war Eiland, sein letzter Roman – eine echte Utopie.

Freiheit oder Sklaverei
Eiland war das Gegenstück zur Schönen Neuen Welt. In der Schönen Neuen Welt, viele erinnern sich vielleicht noch aus der Schule, gilt Glück als das höchste Gebot. Aber nicht das Glück, dass sich Bhutan seit einigen Jahren in die Verfassung geschrieben hat; mehr das Glück der Fun-Gesellschaft. Ein ausgeklügeltes System, in dem es fast keine Ausreißer gibt: Es gibt ein künstlich erzeugtes Kastensystem, in das die Menschen gentechnisch hineingezüchtet werden. Oben sind die Alphamännchen und –weibchen, darunter die Betas usw., bis hinunter zu den quasi-debilen Epsilons, die natürlich für die Jobs da sind, die keiner machen will. Klingt nicht wie Zukunftsmusik. Zusammen mit Gentechnik, Konditionierung und der Glücksdroge „Soma“ wird jede Gelegenheit ausgeschaltet, unglücklich, besorgt, unzufrieden oder frustriert zu sein: Es gibt einen Kult der ewigen Jugend, promisker Sex ist hygienische Freizeitpflicht, Sport, Spaß und Spiele sorgen für Dauerablenkung und starke emotionale Bindungen wie Liebe und Familie gelten als obszön. Dauerglück wie auf einer niemals endenden Love-Parade. Die Despoten der Schönen Neuen Welt haben, wie Huxley es ausdrückt, die Menschen dazu gebracht, ihre Sklaverei zu lieben. In Eiland hat sich Huxley versucht vorzustellen, was nötig wäre, eine glückliche Gesellschaft zu erzeugen, in der Menschen trotz Freiheit und Verantwortung intelligenter, liebevoller, mitfühlender, friedlich, fröhlich und frei sind. Die Gesellschaft auf dem kleinen Eiland im indischen Ozean ist ein kurioser Mix aus westlicher Wissenschaft und östlichen Philosophien und vielleicht die erste (und einzige) pragmatische Utopie: Das meiste, was in dem Roman an Lebenspraktiken geschildert wird, hatte Huxley in den vorausgehenden Jahrzehnten selber praktiziert.

Huxley für heute
Huxleys umfassende wissenschaftliche Interessen führten nach seiner Emigration nach Kalifornien im Jahre 1937 dazu, dass er nicht nur maßgeblich am wachsenden Erfolg östlicher Philosophien wie Vedanta, Buddhismus und Taoismus im Westen beitrug, sondern auch einer der ersten war, die (bereits in den 1920ern) nachdrücklich vor der ökologischen Verwüstung des Planeten warnte. Notorisch bekannt wurde Huxley, als er seit 1953 Experimente mit psychedelischen Drogen durchführte und darüber auch schrieb (The Doors of Perception / Die Pforten der Wahrnehmung). Die kalifornische Rockband The Doors benannte sich nach dem Buch, die Beatles kannten es (Aldous ist auf dem Cover von Sgt. Pepper) und für die Drogenkultur der Hippies (von Timothy Leary bis Allen Ginsberg) war Huxley die Leitfigur.

Trotz seines phänomenalen Gedächtnisses für erstaunliche Details und Anekdoten und seiner sensationellen Universalbildung in beinah allen Disziplinen, hat er nie zur Vergeistigung oder Distanzierung geneigt. Zugleich war er ein sinnlicher, körperlicher Mensch und konsequenterweise war die philosophische Richtung, die ihm am nächsten stand, der Pragmatismus. Alle philosophischen Fragen, gesellschaftstheoretischen oder bildungspolitischen Überlegungen interessierten ihn nur unter unmittelbar praktischen Gesichtspunkten.

Höchste Zeit also, Huxley wiederzuentdecken. Denn nicht nur die Schöne Neue Welt liefert weiter Zündstoff hinsichtlich gegenwärtiger Entwicklungen in der künstlichen Intelligenz, der Robotik, des Human Enhancement und Big Data. Huxleys frühe satirische Romane wie Kontrapunkt des Lebens bieten nach wie vor beste Unterhaltung und intellektuelle Stimulation, ebenso wie seine Essays. Und ebenso wie Schöne Neue Welt sind seine Aufsätze zur Entwicklung der technisierten Gesellschaft, des globalen Kapitalismus, der Zerstörung der Umwelt, und seine Rezepte für ein besseres Leben hochaktuell. Nicht jeder hat, angesichts des europäischen Rekordhitzesommers, den Luxus der Amerikaner. Die leiden ja – zumindest offiziell – nicht unter dem Klimawandel.

 

Uwe Rasch

Uwe Rasch ist seit 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Aldous-Huxley-Forschungsstelle an der Universität Münster und arbeitet an der Herausgabe des »Aldous Huxley Annual« und der Huxley-Monografien-Reihe »Human Potentialities« mit. Er hat jahrzehntelang als Kulturjournalist gearbeitet. Hauptberuflich ist Uwe Rasch zurzeit Dozent für akademisches Englisch am Sprachenzentrum der Universität Münster.

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