Jedes Jahr erscheinen in dem historischen Programm, das ich verantworte, gut dreißig Bücher. Fünfzehn oder sechzehn pro Halbjahr. Sachbücher und Fachbücher, Quelleneditionen, Ausstellungskatalog… Meist sind es die unerwarteten, die für unser Buchprogramm ungewöhnlichen Bücher, die mich persönlich besonders beschäftigen. Die, die man nicht in Auftrag geben kann, wie ein Handbuch zum Ersten Weltkrieg etwa oder zu den mittelalterlichen deutschen Königen. Die Bücher, die man als Lektor gar nicht gesucht hat, die aber plötzlich anklopfen und da sind, die Sperrigen, von denen man aber sofort weiß, dass sie etwas Besonderes sind. Das sind dann meine‚ Bücher des Herzens‘. Und von denen gibt es in jedem Halbjahresprogramm eines oder zwei.
In diesem Jahr gehört für mich dazu auf jeden Fall das Buch „Sonderbehandlung“ von Filip Müller. Das Buch ist eigentlich 1980, und wurde dann, obwohl in vielen Sprachen bis heute lieferbar, in Deutschland nie mehr erschienen. Einer der besten Kenner des Konzentrationslager-Systems von Auschwitz-Birkenau überhaupt, Andreas Kilian, hatte mich auf das Buch aufmerksam gemacht. Er kannte den Autor Filip Müller, der 2013 starb, persönlich, und hielt danach weiterhin Kontakt zu dessen Familie. Filip Müller hatte das Schlimmste ertragen müssen, was Menschen sich ausdenken können, und er hatte es überlebt. Wer ihn in Claude Lanzmanns Film „Shoah“ von seiner Zeit im ‚Sonderkommando‘ KZ Auschwitz-Birkenau erzählen gehört hat, vergisst Filip Müller nie! Das Buch ist mit Sicherheit eines der eindrücklichsten Werke meines Berufslebens, dessen Erscheinen mich stolz macht – und beschämt. (Das Buch war in Deutschland übrigens jahrzehntelang nicht mehr lieferbar, weil der Autor und seine Familie nach Erscheinen heftigsten Angriffen von Alt- und Neonazis ausgesetzt waren. Erst jetzt, vierzig Jahre nach der Erstveröffentlichung, ist es uns gelungen, von Filip Müllers Sohn die Erlaubnis zu einer kommentierten Neuausgabe eines der wichtigsten Zeugnisse zum Mordprogramm in Auschwitz zu bekommen.)
Filip Müller
Dann, zum Jahresbeginn, erhielt ich, mehr durch Zufall, eine Email weitergeleitet, in der eine Deutsche mit bosnischen Wurzeln ihre Erinnerungen an die Balkankriege in den 1990er Jahren als Buchmanuskript anbot. Die Nachricht ging eher pro forma an mich; man war sich sicher, dass diese Form des memoir nichts sei für das Programm der wbg.
Zweierlei aber hatte mich an dem Projekt unmittelbar angesprochen: Zum einen die ungeschützte Offenheit und die erschütternde Ehrlichkeit der Autorin Mirsada Simchen-Kahrimanovic angesichts der erlebten Grausamkeiten als dreizehnjähriges Mädchen in Bosnien. – Gleich zu Beginn des Bosnienkrieges wurde ihr Vater ermordet. Und andererseits wurde mir bewusst, wie wenig wir Deutschen von den Balkankriegen mitbekommen haben, beziehungsweise wie stark wir diesen Krieg verdrängt haben. Nach der friedlichen Wiedervereinigung wollte man möglichst wenig von einem Krieg in Europa mitbekommen.
Ihr Buch „Lauf, Mädchen, lauf!“ erschien dann bereits im Sommer 2022, und es erlangte nach seinem Erscheinen sofort große Aufmerksamkeit, bei Politikern, an Schulen, in der politischen Erwachsenenbildung. Die Autorin selbst hatte sich nach ihrer Flucht nach schwierigen Anfängen in Deutschland ein neues Leben aufbauen müssen. Beruflich erfolgreich, engagiert sie sich heute mit der allergrößten Leidenschaft für das Bekanntmachen der Gräuel in den Kriegen, aber mehr noch für die Aussöhnung zwischen Bosniaken, Kroaten und Serben in ihrer alten Heimat.
(Übrigens sind etwa 98% der Autorinnen und Autoren im Geschichts-Programm der wbg Historikerinnen oder Politologen oder stammen irgendwie aus der Gruppe der akademischen Geisteswissenschaftler. Das bürgt für Qualität und Anspruch. Es kann aber auch andere Perspektiven und emotionale Herangehensweisen verhindern. Wir sollten uns hüten, wissenschaftliche Distanz als die einzig richtige Haltung anzusehen!
Beide Autor:innen, Filip Müller wie auch Mirsada Simchen-Kahrimanovic, sind auch deshalb etwas viel zu Seltenes im wbg-Programm, weil sie eben keine Akademiker mit wissenschaftlicher Distanz sind, sondern authentische Zeugen mit einem unendlich wichtigen Anliegen.)
Ein spätes Grab für Šehid Kahrimanović Suad, den Vater der Autorin, der ursprünglich in einem Massengrab verscharrt worden war.
Wenn der eine oder andere Leser nun enttäuscht ist, die eine oder andere Leserin sich unter ‚Bücher des Herzens‘ etwas Anderes, Wärmeres, unproblematische Lektüre vorgestellt hat, dann will ich gerne noch einen dritten Titel nennen, der mir gleichfalls viel bedeutet.
Im Oktober war ich seit langem endlich mal wieder in Rom. Diese Reise war ein Geschenk zum 18. Geburtstag meines Sohnes. Sein 18. Geburtstag war eigentlich im Frühjahr 2020, und in Italien breitete sich gerade eine unbekannte Seuche rasant aus … Diesen Herbst konnten wir die gemeinsame Reise endlich nachholen!
Ich war schon oft in Rom. Ich bin halbwegs vertraut mit der Geschichte und Kunstgeschichte der Stadt, mit den Sehenswürdigkeiten, Museen und der Topographie. Aber es war nach langen Jahren der Abstinenz wieder ein unendlich reiches Erlebnis, diese einzigartige Mischung aus großer Geste und improvisiertem Chaos, aus unendlicher Pracht und Verfall, aus Grandezza und Wurschtigkeit. Und immer wieder umwerfend ist die Überlagerung der historischen Schichte.
Ein einzigartiger, ebenso prachtvoller Führer durch die Ablagerungen der Geschichte im Stadtbild ist Jessica Maiers Buch „Rom – Zentrum der Welt“. Es dokumentiert in rund 150 Stadtansichten und Plänen den Wandel der Stadt. Von der Millionen-Metropole der Antike über die rurale Gemeinde im Mittelalter, von dem urbanen Ausbau der Papststadt im Barock bis zur modernen Hauptstadt eines geeinten Italien und zur Weltstadt der Gegenwart. Antike Reliefs und mittelalterliche Fresken, Stiche der Renaissance und prachtvolle Veduten des Barock, der U-Bahn-Plan Roms (man denke an den Film „Fellinis Roma“) und Pläne für den zukünftigen Ausbau der Stadt, die sich niemals irgendwelchen Plänen beugte. „Rom – Zentrum der Welt“ ist der ultimative Bildführer durch die grandioseste Stadt der Welt.
Daniel Zimmermann ist seit einem Vierteljahrhundert Lektor für Geschichte und Altertumswissenschaften im Verlag der wbg; hier ist er an einem sonnigen Oktobertag in Rom.