Es ist ein verstörender Anblick: Ein Mann rennt nackt und nass durch die Straßen und ruft Heureka, heureka – „Ich hab’s gefunden! Ich hab’s gefunden!“. Was kann so wichtig sein, dass man sich nicht abtrocknet und anzieht, ehe man das Haus verlässt? Warum läuft man nicht schweigend, sondern erregt durch sein Rufen größtmögliche Aufmerksamkeit? Und überhaupt: Wer ist der Mann, woher kommt er, wohin will er?
Die Antworten auf diese Fragen geben die beiden antiken Schriftsteller Plutarch und Vitruv. Sie berichten, dass Hieron II, der Tyrann von Syrakus, den Verdacht hatte, von einem Goldschmied betrogen worden zu sein. Dieser soll bei der Verfertigung seiner Krone nicht wie vereinbart reines Gold verwendet, sondern diesem Silber beigemischt haben. Daraufhin habe Hieron den Mathematiker und Gelehrten Archimedes beauftragt, seinem Verdacht nachzugehen und die Krone zu prüfen, ohne sie zu zerstören. Archimedes dachte über eine Möglichkeit der Überprüfung nach und fand sie im Bad beim Anblick des von seinem Körper verdrängten Wassers: Jeder Körper hat aufgrund seiner spezifischen Dichte eine unterschiedliche Auftriebskraft und verdrängt unterschiedlich viel Flüssigkeit. Archimedes lief zum König und konnte den betrügerischen Goldschmied überführen.
Neben der Entdeckung selbst, die als sogenanntes archimedisches Prinzip eine grundlegende physikalische Gesetzmäßigkeit beschreibt, ist es vor allem die besondere literarische Gestaltung, die ihre Bekanntheit und Verbreitung von der Antike bis heute gesichert hat: die Anekdote. Sie leistet als Form der Volkspoesie den Brückenschlag zwischen einem intellektuellen, fachwissenschaftlichen und oft theoriegestützten Umfeld der Erfinder bzw. Erfinderinnen und der Einbindung bzw. Rückverortung ihrer Erfindungen in die praktische Lebens- und Alltagswelt der Menschen. Erfinderanekdoten leisten auf eine spielerische und leicht rezipierbare Weise einen Wissenstransfer.
Gerade in einer Zeit, in der es noch kein Patentamt gab und in der die Urheberschaft von Erfindungen oft umstritten war, bot sich die Anekdote als gut memorierbares Speicher- und Verbreitungsmedien für besondere menschliche Errungenschaften an. Dabei nutzte sie die ihr inhärente Spannung zwischen historischer Wirklichkeit und fiktiver Ausschmückung, um den Fokus weg vom einsamen Forscher Archimedes, dessen ‚Kreise man nicht stören darf‘, hin zum Menschen Archimedes zu lenken, der wie jedermann ins Bad geht, in seiner ungeschützten Körperlichkeit gezeigt und in seinem von Begeisterung angetriebenen Verhalten als ein nahbarer, wenngleich durchaus ein wenig verschrobener Charakter vorgestellt wird. Sein heureka konnte zu einem ‚geflügelten Wort‘ werden, weil es nicht auf den Kontext der spezifischen Entdeckung selbst beschränkt ist, sondern sich von ihr in eben der Weise löste, wie es die Anekdote selbst inszeniert: als ein Ausruf, den man ohne Wissen um das gerade entdeckte physikalische Gesetz in Syrakus hören und so auf jede neue Entdeckung bzw. Erfindung übertragen konnte.
Über das Buch
Erfindungen sind so alt wie die Menschheitsgeschichte, ErfinderInnen prägen diese bis heute. Das ihnen zugeschriebene Moment des Kreativen fasziniert, ihre schöpferischen Leistungen sind Meilensteine der Geistes- und Kulturgeschichte, ihre Genialität regt zu Anekdoten und Mythenbildungen an. Die Beiträge fragen nach den ‚ersten‘ ErfinderInnen in der Antike und untersuchen ihre literarischen Inszenierungen in griechischen und lateinischen Texten mit Blick auf Fragen der Aushandlung, Funktionalisierung, Aneignung oder Transformation von Erfindungen.
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Zum Autor
Manuel Baumbach ist Professor für Klassische Philologie mit dem Schwerpunkt Gräzistik an der Ruhr-Universität Bochum. Zu seinen Forschungsfeldern gehören die hellenistische Dichtung, die Literatur der Kaiserzeit, das antike Epyllion und die Forschungs- und Rezeptionsgeschichte der griechisch-römischen Antike.