Am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert vollzieht sich eine grundlegende Zeitenwende: von seinem westlichen Rand ausgehend wird Europa, erst unter dem Eindruck neuer Ideen, dann unter dem Druck militärischer Gewalt, nicht nur politisch, sondern auch gesellschaftlich neu geordnet. In dieser Zeit lernen die Gesellschaften Europas neue Freiheiten kennen - politisch, sozial, intellektuell und künstlerisch. Wer mit wirtschaftlicher Unabhängigkeit ausgestattet ist, kann nun auch in seinem individuellen Leben neue Freiheitsgrade realisieren. So ist es einem reichen schottischen Lord in Sachsen möglich, nicht nur sein Leben der Suche nach seinem individuellen Glück im Zusammenleben mit einem Mann zu widmen, den er schließlich sogar zum Alleinerben seiner Besitzungen einsetzen und mit dem er das Grab teilen wird.
Gleichzeitig verfolgt er mit der lebenslangen Planung von Landschaftsgärten eine Leidenschaft für eine Kunstform, die selbst zutiefst durchdrungen und geprägt ist vom Geist dieser neuen Zeit. Schließlich erweist sich der Lord der Gärten als Vertreter des späten „klassischen“ Stils des Englischen Landschaftsgartens, in der Nachfolge der Werke eines Lancelot „Capability“ Brown. In seiner schottischen Heimat versucht er, hochfliegende Pläne für eine gigantische Umgestaltung seiner Ländereien umzusetzen. Später, in seiner Wahlheimat östlich von Dresden, bemüht er sich dann durch die Umgestaltung des Elbhangs seine Konzeption einer Parkanlage zu verwirklichen, welche die umgebende Landschaft als Teil der Dramaturgie der Anlage einbezieht. So wird er zum Wegbereiter für die heutige Parklandschaft der „Elbschlösser“. Außerdem wirkt er als Berater und Anreger für die Neuanlage von Kurpromenaden in Karlsbad sowie ein Parkprojekt in der Lausitz, wo er einen barocken Schlosspark zu einem Englischen Park umgestaltet.
Das Palais im Großen Garten von Dresden - © SBG gGmbH (CC BY-NC-SA 4.0)
In dem bei der wbg erschienenen Buch »Lord Findlater und die Gärten seiner Zeit« wird die Geschichte eines britischen Aristokraten erzählt, der seinen Lebensmittelpunkt vom nördlichen Rand Europas in die Mitte des Kontinents nach Dresden verlegte, um sich dort physisch und psychisch eine neue Heimat zu erschaffen. In Form von 15 Exkursen werden gleichzeitig wichtige Entwicklungslinien in der Entstehung der damals noch jungen Landschaftsarchitektur aufgezeigt.
Das Buch vermittelt dem historisch interessierten Leser ein anschaulich erzähltes Zeitporträt, schließt damit auch eine Lücke in der Lokalgeschichte der sächsischen Landeshauptstadt, und bietet nicht zuletzt einen mentalitätsgeschichtlichen Beitrag zur queer history.
Mit vielen Abbildungen und eigenen Grafiken werden die beschriebenen Orte und Ideen veranschaulicht. Darüber hinaus bietet es dem sich für die Gärten und Parks des 18. und 19. Jahrhunderts interessierenden Laien eine verständlich und unterhaltsam geschriebene Einführung in wichtige Aspekte der Entstehungsgeschichte des Landschaftsgartens.
»Lord Findlater und die Gärten seiner Zeit« von Martin Päckert & Frank Klyne
In Grabstätte Nummer 32 auf dem Loschwitzer Kirchhof bei Dresden ruhen „Herr Lord Jacob Graf von Findlater, Pair von Schottland“ und „Johann Georg Christian Fischer“. Wer war dieser schottische Aristokrat? Warum hat er in Sachsen seine letzte Ruhestätte gefunden? Wieso zusammen mit jenem ominösen Herrn Fischer? Und was macht deren gemeinsame Lebensgeschichte gerade auch für uns Heutige überaus anregend und spannend? Indem jenem Lord Findlater und seinem „Partner“ nachgespürt wird, werden ihre Biografien eingeordnet in die europäische Geschichte der Zeitenwende um 1800 mit vielfältigen politischen, sozialen, kulturellen, geistes- und ideengeschichtlichen Aspekten wie nicht zuletzt der Entwicklung des Landschaftsgartens in Deutschland. Diese wird in 15 Exkursen, locker verschränkt mit der biografischen Handlung, nachgezeichnet. Gleichzeitig gelingt eine überraschende Neuidentifizierung einer Nebenfigur der Weltliteratur.
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Zu den Autoren des Beitrags
Frank Klyne, geb. 1961, Dipl.-Ing., M. Arch. (TH Darmstadt und SUNY at Buffalo, New York) langjährige Arbeit als Entwurfsarchitekt, Projektleiter und zuletzt Geschäftsführer einer Projektentwicklungsgesellschaft
Martin Päckert, geb. 1970, promovierter Biologe, leitet die Sektion Ornithologie der Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen Dresden und ist aktives Mitglied des Senckenberg Diversity and Inclusion Committees.