„Gelehrtester aller Römer“ und Polyhistor – ein Gespräch zwischen wbg-Lektor Daniel Zimmermann und dem Übersetzer Wilhelm Pfaffel über Varro und sein Werk zur lateinischen Sprache
Daniel Zimmermann: Lieber Herr Pfaffel, zum Aufwärmen: Was versteht man denn unter der ‚Varronischen Zählung‘? (Das wäre sicher auch eine wunderbare Frage für ein Günther-Jauch-Quiz.)
Wilhelm Pfaffel: Für Nicht-Historiker eine recht knifflige Frage! Varro wird eine Datumsangabe zugeordnet, nach der die sagenhafte Gründung Roms – umgerechnet – im Jahr 753 v. Chr. stattgefunden haben soll; damit musste man schon in der Antike nicht jedes Mal die Konsuln des jeweiligen Jahres wissen, um ein historisches Ereignis zuzuordnen, sondern konnte nunmehr „ab urbe condita“, von Gründung der Stadt an, datieren. Ob Varro diese Zählung aber wirklich erfunden hat, ist gar nicht sicher.
D. Z.: Der große Rhetor Quintilian nannte Varro den „gelehrtesten aller Römer“. Welche Themengebiete behandelte der Vielschreiber Varro?
W. Pfaffel: Er schrieb über fast alle Wissensbereiche der damaligen römischen Welt: über die Geschichte des römischen Volkes, die Familiengeschichte der Trojaner und die römischen Triben, über die Geschichte der lateinischen Buchstaben, die Plautinischen Komödien und die Ursprünge des römischen Theaters, aber auch über Gezeiten und die Nautik, über die Erhaltung der Gesundheit, eine Autobiographie, auch rein kulturgeschichtliche Schriften über die römische Profan- und Sakralarchäologie – und natürlich die „rein“ grammatischen Schriften über das Lateinische und – als Spätwerk – seine drei Bücher über die Landwirtschaft. Es fehlen dann eigentlich nur noch Schriften über die Liebeskunst und über Sport ….
D.Z.: Varro lebte in unruhigen Zeiten. Er erlebte die Bürgerkriege, Caesars Herrschaft und Augustus; er bekleidete hohe Verwaltungs-Ämter und schrieb - nebenher - noch rund 70 Bücher. Wie nannte man in der römischen Welt einen workaholic?
W. Pfaffel: Erstaunlicherweise hatten die Römer dafür keinen Begriff. Der Allround-Wissenschaftler war der „vir doctissimus undequaque“, aber für einen Dauerschreiber haben sie kein eigenes Wort geprägt; wahrscheinlich gab es davon einfach nur ganz wenige, die sich dieses Gelehrtenleben leisten konnten. Dafür brauchte man ja eine Riesenbibliothek und mindestens einen Sekretär, der die Diktate des Meisters mitschrieb und seinen Papierkram erledigte, wie es Cicero mit seinem Sklaven Tiro hatte.
D.Z.: Neben Varros Werk „Über die Landwirtschaft“, welches vollständig erhalten ist, hat sich von seinen unglaublich vielen Werken nur „De Lingua Latina“ in weiten Teilen erhalten. Was wissen wir von dem Gesamtwerk, und was existiert heute noch davon?
W. Pfaffel: „De lingua Latina” umfasste ursprünglich 25 Bücher, also Schriftrollen aus Papyrus, das entspricht in etwa einem heutigen Fachbuch von ca. 250 Seiten. Davon ist allerdings nur ein knappes Viertel erhalten, der Rest ist verloren.
Der Codex Vallicellianus (D.49.3) aus Rom
D.Z.: Varro war schon in der Spätantike eine wichtige kulturhistorische Quelle. Was können wir – jenseits der Erkenntnisse über die lateinische Sprache – aus diesem Werk noch erfahren?
W. Pfaffel: Zum einen hat uns Varro darin Dutzende Zitate römischer Dichter überliefert, die wir sonst nicht kennen würden, daneben Auszüge aus Prozessformeln, Anweisungen für die Zensoren – und einen Ausschnitt aus der wohl ältesten lateinischen Dichtung, dem Lied der Salierpriesterschaft. Inhaltlich erfahren wir viel über die Topographie des alten Rom, über römische Kleidung, Küchengeräte und Mobiliar, über Fleischwaren und Gemüse, über den römischen Kalender und die Festtage, aber auch Kurioses wie den ersten Auftritt einer Giraffe in Rom anlässlich Cäsars Triumph über Ägypten, das Meiste davon eingepackt in seine etymologischen Worterklärungen, die sich oft von den Sachen ja nicht trennen lassen.
D.Z.: „De Lingua Latina“ hat eine komplizierte Editionsgeschichte. Es gibt kritische Editionen einzelner Bücher des Werkes in Deutschland, England, Frankreich. Sie legen nun einen neuen lateinischen Text vor. Worin unterscheidet dieser sich von den vorhandenen Fassungen?
W. Pfaffel: Ich habe intensiv mit hervorragenden Fotoaufnahmen der wichtigsten Handschriften aus Florenz und Rom gearbeitet und vor allem den ältesten Florentiner Codex aus dem frühen 12. Jahrhundert und seine Interpunktion auch im Original studiert; er ist der Archetyp der späteren Kopien, dem sich aber auch etliche Geheimnisse noch entlocken ließen. Für einige wenige Stellen lässt sich sogar eine noch frühere Varrofassung rekonstruieren, was doch erhebliche Konsequenzen für die Textgestaltung hatte. Daneben habe ich den Varrotext Satz für Satz abgeklopft und hin und her gewendet, dabei die Verbesserungen und Textvorschläge vor allem der frühen Humanisten des 16. und 17. Jahrhunderts herangezogen, die ein sehr feines Gespür für Klang und Inhalt hatten. So waren Hunderte von – wie ich hoffe – echten Textverbesserungen möglich, die nun einen relativ flüssigen lateinischen Text ergeben haben.
D.Z.: Ihre Varro-Edition ist die erste vollständige, lateinisch-deutsche Fassung dieses zentralen Werkes zur lateinischen Sprache. Worin lagen die besonderen Herausforderungen beim Übersetzen dieses Werkes, was sind vielleicht auch die Glücksmomente gewesen?
W. Pfaffel: Varros Werk über die lateinische Sprache war schon zu seiner Zeit ein Mischtext: Er vermengte ja Aussagen des Grammatikers und Kulturhistorikers mit Zitaten aus der Objektsprache, was schon seinen antiken Lesern Schwierigkeiten beim Lesen und Verstehen bereitet haben muss. Außerdem ist Varro in seiner Ausdrucksweise mitunter recht knapp und elliptisch, wie es natürlicherweise heutige Grammatiken und Wörterbücher sein müssen. Diesen Mix aus Objekt- und Metasprache und seine vielen Ellipsen musste die Übersetzung auflösen, damit die heutigen Leser nicht wieder den Eindruck haben, vor zusammenhanglosen Trümmern zu stehen.
Ja, und dabei gab es auch Glücksmomente: Als ich bei manchen Stellen erst im Übersetzungsvorgang merkte, dass der überlieferte Text trotz der vielen Philologenkonjekturen keinen rechten Sinn ergab. Auch der Rekurs auf Varros etymologische Methode brachte von Varro selbst erfundene Wörter und Formen zutage, die bislang unerkannt waren. So war die Übersetzung ein ständiger Such- und Entdeckungsprozess, der stellenweise richtig Freude machte.
D.Z.: Lieber Herr Pfaffel, ich danke Ihnen ganz herzlich für dieses Gespräch!
Über die Bücher
Marcus Terentius Varro (116-27 v. Chr.) war der bedeutendste römische Gelehrte überhaupt. Seiner Produktivität kam kein anderer Römer gleich; er verfasste über 70 Werke zur Kulturgeschichte Roms, zu Landwirtschaft, Philosophie und zur lateinischen Sprache. In der Spätantike war er durch sein enorm breites Werk eine unerschöpfliche Fundgrube für kulturhistorische Erkenntnisse. Zum ersten Mal wird „De lingua Latina“ nun ins Deutsche übersetzt. An zahlreichen Stellen wurde der lateinische Text grundlegend verbessert; ein gründlicher philologischer und linguistischer Kommentar erschließt den Text und macht die zweisprachige Ausgabe zur unverzichtbaren Lektüre für alle, die sich für Latein und die (alt-)römische Kultur interessieren.
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Zu den Beteiligten
Dr. Wilhelm Pfaffel, geb. 1949, studierte Klassische Philologie und historische Sprachwissenschaft in Regensburg und Pavia. Er verfasste Schulwerke für den Lateinunterricht sowie Aufsätze zur lateinischen Epigraphik der Kaiserzeit und Spätantike. Bis 2014 leitete er das Albertus-Magnus-Gymnasium in Regensburg.
Daniel Zimmermann lebt in Mainz und ist Programmmanager im wbg-Lektorat Geschichte. Dort ist er zuständig für die Programme wbg Theiss, wbg Edition, wbg Academic und wbg Zabern.