von Jochen Oltmer
Was bedeutet »Corona« aktuell für die Migrationsverhältnisse? Eine Antwort ist schnell gefunden: Die Zahl der Menschen, die sich grenzüberschreitend oder binnenstaatlich bewegen, ist ganz erheblich gesunken. Das gilt sowohl für die Bundesrepublik Deutschland oder für die Europäische Union als auch für einen Kontinent wie Afrika oder ein Land wie Indien. Außerdem haben die öffentlichen Debatten massiv an Dynamik verloren. Insbesondere seit Anfang des 21. Jahrhunderts, vor allem aber in dessen zweitem Jahrzehnt, erwiesen sich viele Aspekte der Migrationsverhältnisse bekanntlich in wachsendem Maße als hochemotional diskutierte Themen. Ob es nun um die »Armutsmigration« von Menschen aus Rumänien oder Bulgarien ging, den Anstieg der Zahl der Asylsuchenden bis in die Spitzenjahre der »Flüchtlingskrise« 2015/16, um »Seenotrettung« im Mittelmeer, die Situation in den Lagern in der Ost-Ägäis oder die Auseinandersetzungen um die verschiedensten Facetten gesellschaftlichen Wandels durch die Folgen (vergangener oder gegenwärtiger) räumlicher Bewegungen.
»Corona« bedeutet also einen »Lockdown« der räumlichen Bewegungen und der gesellschaftlichen Aushandlungen der Migrationsverhältnisse. Wenn das Thema aktuell diskutiert wird, geht es meist um die – auch für viele andere Felder diskutierte – Frage, ob »nach Corona« wie »vor Corona« sein dürfte und ob »Corona« einen grundsätzliche(re)n Wandel herbeiführen wird. Man mag das Nachdenken über mögliche Antworten für fruchtlos halten, weil zu viele Unwägbarkeiten zu berücksichtigen sind. Menschen handeln allerdings bekanntlich immer unter Bedingungen der Unsicherheit und legen sich potentielle Handlungsmöglichkeiten vor dem Hintergrund von Zukunftserwartungen und Zukunftsvorstellungen zurecht. Das gilt im Übrigen auch für (potentielle) Migrantinnen und Migranten, die sich nicht bewegen würden, hätten sie nicht eine Idee über den Zweck ihrer räumlichen Bewegung: Migration ist bekanntlich kein Selbstzweck, sondern ein Instrument zur Erreichung eines je spezifischen (Lebens-)Ziels.
Vor dem Hintergrund vorliegender Erklärungsansätze und Daten lässt sich erwarten, dass die laufende Krise in vielen gesellschaftlichen Bereichen keine grundstürzenden Neuerungen mit sich bringen, sondern ohnehin bestehende Trends verstärken und beschleunigen wird. Die Reaktionen auf die Pandemie dürften zudem nicht folgenlos bleiben: So sind häufig etwa besondere Befugnisse, die in einer Krise vergeben wurden, nach deren Ende mit dem Hinweis auf das Ausmaß der Krise und der Krisenfolgen beibehalten worden, Ausnahmekompetenzen wurden also zu Dauereinrichtungen. Was könnten diese beiden Punkte nun konkret für die Migrationsverhältnisse bedeuten?
Wir erleben seit Jahren einen Trend zur Verstärkung von Maßnahmen zur Grenzsicherung. Das gilt für viele Weltregionen und auch für die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten, die seit den frühen 1990er-Jahren vermehrt Bewegungen von Menschen beobachteten, kontrollierten und die Bemühungen, sie aufzuhalten, intensivierten: Technisierung und Digitalisierung von Grenzen, zuletzt durch den vermehrten Einsatz von Datenbanken, Drohnen und Satelliten, Verstärkung des – auch gemeinsamen – grenzsichernden Personals, Auslagerung von Grenzschutzaufgaben an Private (beispielsweise Beförderungsunternehmen), Auf- und Ausbau von vertraglichen Beziehungen zu Transitländern und Herkunftsregionen von für unerwünscht erachteten Bewegungen.
Weit vor dem Ausbruch der Corona-Krise wuchs zudem die Zahl derer, die die EU-Binnengrenzen wieder verstärkt kontrollierten: 2019 nahmen sechs der insgesamt 26 Schengen-Staaten an Teilen ihrer Staatsgrenzen – oder im Falle Frankreichs: innerhalb des eigenen Staatsgebiets – Personenkontrollen über längere Zeiträume vor, die im »Schengen-Raum« an sich ausschließlich als zeitlich befristete Maßnahmen für Notfälle gelten. Selbstredend steht zu erwarten, dass die Binnen- und Außengrenzen wieder geöffnet werden, die volkswirtschaftlichen Kosten wären ansonsten viel zu hoch und die politischen Friktionen zu groß. Das ohnehin in den vergangenen Jahren gewachsene Kontrollbedürfnis und die ebenfalls bereits seit längerem stark ausgebauten Kontrollkapazitäten dürften hingegen nicht sinken, vielmehr auf einem höheren Niveau weiterexistieren – mit Folgen für den Umfang und die Richtung zukünftiger Bewegungen.
Die Möglichkeiten der Migration könnten auch aus anderen Gründen weiter beschränkt bleiben: Migration wird häufig recht schlicht gedacht. Simple Losungen folgender Art lassen sich selbst in der wissenschaftlichen Literatur finden: »Je mehr Armut desto mehr Abwanderung«, »Umweltveränderungen/Klimawandel führt vermehrt zu Migration«, »Krieg bedeutet Flucht«. Unterschätzt wird dabei die Zahl der Einflussfaktoren und die Bedeutung der Hürden, die insbesondere Bewegungen über größere und große Distanzen gegenüberstehen. Migration ist teuer, es braucht nicht nur (erhebliche) finanzielle Mittel, nötig ist auch ein Recht auf Bewegung. Fehlt es, wird Migration umso teurer. Räumliche Bewegungen müssen in den Herkunfts-, Transit- und Ankunftsgesellschaften sozial akzeptiert sein. Gibt es keine Verwandten und Bekannten andernorts, ist eine Bewegung unwahrscheinlich, Netzwerke sind also von immenser Bedeutung. Und das heißt auch: Armut behindert oder verhindert Migration, Kriege oder der Klimawandel zerstören Ressourcen, immobilisieren also eher, als dass sie mobilisieren.
Viele Faktoren deuten darauf hin, dass die Corona-Pandemie die Welt ärmer macht und vor allem die Menschen betroffen sein werden, die sich ohnehin bereits in einer prekären Lage befinden. Die Wahrscheinlichkeit ist also keineswegs gering, dass das Virus als Zerstörerin von individuellen und gesellschaftlichen Ressourcen zahlreiche Menschen in weniger wohlhabenden oder armen Gesellschaften dort »gefangen« hält, zumal Migration hochgradig selektiv ist und Menschen mit geringer Bildung und geringem Einkommen vielfach ausschließt. Ein solches Szenario mag manche im Globalen Norden angesichts der überwiegenden Thematisierung von Migration als gesellschaftliches Gefahrenpotential beruhigen. In einer globalen Perspektive erweist sich die Aussicht keineswegs als rosig, wäre die Grundvoraussetzung von weniger Bewegung doch mehr Armut und weniger Bildung.
Zum Autor
Jochen Oltmer, geb. 1965, ist Apl. Professor für Neueste Geschichte an der Universität Osnabrück und Mitglied des Vorstands des dortigen Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS). Sein Forschungs¬schwerpunkt liegt auf der Geschichte von Migration und Migrationspolitik vom 18. Jahrhundert bis in die Gegen¬wart. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher und Aufsätze zum Thema, bei wbgTheiss ist von ihm erschienen: Migration. Geschichte und Zukunft der Gegenwart.
Zum Buch
Migration - Geschichte und Zukunft der Gegenwart
Migration, Flucht, Asyl: Die Themen sind allgegenwärtig. Mit der Einordnung der Phänomene aber tut sich die Debatte schwer, auch weil sie geschichtsblind agiert und übersieht, dass sich die Gegenwart der Migration nur durch den Blick auf lange Linien des Wandels weltweiter Wanderungen erklären lässt. Migration bildete von Beginn der Geschichte der Menschheit an ein zentrales Element gesellschaftlicher Veränderung. Ein Mythos ist auch die Auffassung, in der Vergangenheit sei Migration ein linearer Prozess gewesen – von der dauerhaften Abwanderung aus einem Raum zur dauerhaften Einwanderung in einen anderen: Rückwanderungen, Formen zirkulärer Migration und Fluktuationen kennzeichnen die lokalen, regionalen und globalen Wanderungsverhältnisse in der Vergangenheit wie in der Gegenwart. Welche Faktoren aber bedingen Migration und Flucht und von welchen Folgen und Effekten ist auszugehen? Antworten auf diese grundlegenden Fragen bietet das neue Buch des Migrations-Experten Jochen Oltmer.