Norman Davies: …a fascinating mental journey... Ein Interview mit dem Bestsellerautor

Interview von Daniel Zimmermann (wbg) mit dem Bestsellerautor Norman Davies (Autor von "Ins Unbekannte")

 

„Unter anderen Himmeln“, „Unter fernen Sternen“,
„Ins Unbekannte“ – Wir hatten uns hier im Haus viele Gedanken um den Titel dieses großartigen Werkes gemacht,
dass im englischen Original „Beneath Another Sky“ heißt.  Mit dem Autor Norman Davies sprach ich in Zeiten weltweiter Reisewarnungen.

 

 

 

D. ZIMMERMANN: Lieber Norman Davies, Sie sind ein äußerst reisefreudiger Mensch. Ihr jüngstes Buch, „Beneath Another Sky“ (deutsche Fassung „Ins Unbekannte“) ist das Ergebnis zweier langer Reisen 2012 und 2014 rund um den Globus, immer in Richtung des Sonnenaufgangs. Was hat das Reisen mit Geschichtswissenschaft zu tun?

NORMAN DAVIES: Reisen hat vielleicht nicht viel mit Geschichtswissenschaft zu tun, aber es spielt eine wichtige Rolle in der Kunst des Geschichtsschreibens. Alle historischen Ereignisse finden in Zeit und Raum statt. Historiker können nicht in die Vergangenheit ‚reisen‘, aber sie können die Räume besuchen, in denen sich die Dinge ereignet haben, und die intime Kenntnis eines Ortes hilft ungemein, sich vergangene Zeiten vorzustellen, als die Umstände dort noch anders waren.

Abgesehen davon glaube ich absolut an den "genius loci", die Magie eines Ortes, die aus den dort angehäuften Erinnerungen und den Spuren vergangener Ereignisse erwächst.

D. ZIMMERMANN: In dem Kapitel, in dem Sie Ihren Aufenthalt in Neuseeland beschreiben, beschäftigen Sie sich fasziniert mit der Zeitvorstellung der Maori, die sich von unserer so sehr unterscheidet. Während wir es gewohnt sind, den Blick fest auf die Zukunft zu richten, blicken die Maori zurück, in die Vergangenheit, auf ihre Traditionen. Die Vergangenheit nennen sie ngaa raa o mue, „die Tage vor uns“, während die Zukunft kei muri heißt, „was hinter uns liegt!. Sie schreiben: „Die Maori „marschieren rückwärts in die Zukunft“. Ihr Blick war fest auf das Vergangene gerichtet. Und die Idee eines Fortschritts fehlte völlig.“ Wie hat diese Entdeckung einer fremden Zeitvorstellung Ihre Arbeit als Historiker verändert oder beeinflusst?

NORMAN DAVIES: Ja, dies war ein wichtiger Moment für mich. Er hat mich gelehrt, dass die Erkundung ferner Orte nicht nur hilft, die Geschichte hinter der Landschaft und den Gebäuden zu sehen, sondern auch das Tor zu mentalen Welten öffnet, die ganz und gar verschwunden sind aus unserer heutigen Zeit. Anfangs neigt man zu der Annahme, dass die Griechen und Römer (oder die Azteken oder die alten Slawen oder jedes andere Volk, das Ihnen gefällt) im Wesentlichen die gleichen waren wie wir modernen Menschen, außer dass sie andere Kleidung trugen, anderes Essen aßen und andere Sprachen sprachen. Aber irgendwann, wenn man offen für neue Ideen ist, erkennt man, dass frühere Völker ganz anders dachten, ganz anders fühlten und die Welt um sich herum auf eine ganz bestimmte, andere Weise wahrnahmen.

D. ZIMMERMANN: Schon Ihr Vorgängerbuch „Verschwundene Reiche“ wie auch jetzt Ihr neustes Werk „Ins Unbekannte“ ist stark geprägt von der Erkenntnis der Flüchtigkeit, der Zufälligkeit und Wandelbarkeit historischer Entwicklungen. Sie schreiben: „Zudem wollte mir scheinen, dass die Menschheitsgeschichte eine Geschichte nicht nur von stetiger Veränderung, sondern ebenso von ständiger Ortsveränderung gewesen war, eine Geschichte voller Bewegung und Fortbewegung.“ Ist das eine Erkenntnis, die in Ihrer Persönlichkeit wurzelt, oder ist sie Ergebnis Ihrer Arbeit als Historiker?

NORMAN DAVIES: Die Unbeständigkeit der Welt, in der wir leben, ist eine Tatsache, ein Zustand, den einige Historiker sehen und andere nicht sehen. Die Erkenntnis dieser Tatsache erwächst zum Teil aus der Persönlichkeit des Historikers und seiner früheren Erfahrung und zum Teil aus der harten Arbeit, die Vergangenheit mit allen verfügbaren Methoden eingehend zu erforschen.

D. ZIMMERMANN: Wenn Sie mit diesem Blick auf das Werden, Aufblühen und Vergehen von Staaten und Kulturen schauen: Hätten Sie – angesichts von Brexit, Nationalismus, Klimakrise - einen Rat an die heute Verantwortlichen?

NORMAN DAVIES: Die Art von Menschen, die heute in vielen Ländern die Macht übernommen haben (und ich habe da persönliche Erfahrungen in Großbritannien, den USA und Polen), sind taub für Ratschläge, die sie nicht mögen. Sie hören und sehen nur, was sie wollen. Es hat also keinerlei Sinn, ihnen Ratschläge geben zu wollen. Alles, was man tun kann, ist, seine Einsichten und Erkenntnisse niederzuschreiben, seine Analysen zu Protokoll zu geben und zu hoffen, dass diese Arbeit eine wachsende Anzahl aufgeklärter Menschen erreicht und beeinflusst - einschließlich derer, die nach dem Verschwinden der heutigen Populisten das angerichtete Chaos in Ordnung bringen müssen.

D. ZIMMERMANN: Neben weniger exotischen Orten wie New York, Frankfurt – Ausgangs- wie Endpunkt Ihrer Reise – oder Cornwall führte Sie Ihre Weltumrundung an Orte, die nur die wenigsten von uns jemals sehen werden: Nach Baku, Dubai, über Indien, nach Sudostasien, Neuseeland, Australien und Tasmanien bis nach Polynesien – und zurück über Texas und Madeira wieder nach Frankfurt. Seitdem sind einige Jahre vergangen. Wohin ging Ihre jüngste Reise?

NORMAN DAVIES: In die onkologische Station des Krankenhauses. - Nein, das stimmt nicht ganz. Im Jahr 2016 wurde ich von Krebs befallen und begab mich auf eine faszinierende mentale Reise, die mir bis dahin völlig unbekannt war.  Aber zwischen „Beneath Another Sky“ und meinem Krankenhausaufenthalt fuhr ich mit meiner Frau nach Südafrika, und nach meiner Genesung haben wir mehrere kürzere Reisen unternommen - nach Krakau, wo wir ein zweites Zuhause haben, in den Norden Schottlands und nach Paris, wo ich einen alten französischen Freund besuchte, der sich von einer Herzoperation erholte. Ältere Reisende haben ihre eigenen Prioritäten. Und jetzt hat der Corona-Virus dem Zeitalter des bequemen Jet-Reisens ein Ende gesetzt. Ich liebe es, Fernsehsendungen über exotische Bahnreisen zu sehen - nach Vietnam, Indonesien, Paraguay und all die anderen Länder, die ich nie persönlich besuchen werde.

D. ZIMMERMANN: Und was wäre der Ort, den Sie unbedingt gerne noch sehen würden?

NORMAN DAVIES: Ohne Zweifel Südamerika, denn ich habe es nie dorthin geschafft. Auf meiner Weltumrundung wollte ich von Polynesien über die Osterinsel nach Chile fliegen, aber es gab nur einen Flug alle zwei Wochen, und ich musste die Idee aufgeben.

Aber das macht nichts. Im Übrigen stimme ich Ihnen nicht zu, dass Frankfurt oder New York nicht exotisch sind. Überall gibt es Exotik, Unbekanntes, wenn man nur weiß, wie man es finden kann.
Ich war sehr beeindruckt von einer kürzlich von Michael Wood präsentierten Fernsehserie, in der er ein kleines, scheinbar banales englisches Dorf eingehend untersucht. Wenn dieser kleine Ort - Kibworth in Leicestershire - von Archäologen, Archivaren, Kunsthistorikern und sogar den örtlichen Schulkindern sorgfältig erforscht wird, kann er lebhafte Lichtblicke auf alle Epochen der Geschichte werfen, von der vorrömischen bis zur postindustriellen Zeit. Nachdem das Virus verschwunden ist, hoffe ich, selbst einen Spaziergang durch Kibworth unternehmen zu können.

D. ZIMMERMANN: Ich danke Ihnen, lieber Mr. Davis, ganz, ganz herzlich für dieses Gespräch!

 

Zum Autor

Norman Davies ist emeritierter Professor für Geschichte an den Universitäten London, Harvard, Stanford und Columbia. Er wurde mit umfangreichen Werken und Bestsellern zur Geschichte Europas international bekannt. Sein Buch "Verschwundene Reiche. Die Geschichte des vergessenen Europa" (2013) wurde zu einem weltweiten Erfolg.

 

 

 

 

Zum Interviewer

Daniel Zimmermann lebt in Mainz und ist Programmmanager im wbg-Lektorat Geschichte. Dort ist er zuständig für die Programme wbg Theiss, wbg Edition, wbg Academic und wbg Zabern.

 

 

 

 

 

 

Zu den Büchern

Ins Unbekannte - Eine Weltreise in die Geschichte

Ob in Baku, Singapur oder Cornwall, auf Haiti oder Neuseeland: Jeder Ort hat seine Geschichte, oft unerwartet, ungewöhnlich oder völlig unbekannt. Der renommierte Historiker Norman Davies hat sich auf die Suche nach diesen Geschichten gemacht. Sein Buch "Ins Unbekannte" ist ein Reisebericht der besonderen Art: eine Weltreise in die Vergangenheit, eine historische Spurensuche. Im Alter von 73 Jahren reist Davies von der südlichsten Spitze der Südseeinseln bis zum Nordkap einmal rund um den Globus. So entstand ein sehr persönliches Reisetagebuch, das gleichzeitig ein Füllhorn an historischem Wissen und überraschenden Fakten bereithält.

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Verschwundene Reiche - Die Geschichte des vergessenen Europa

Zusammengebrochen, verloren, für alle Zeiten von der politischen Landkarte Europas radiert. Die Geschichte Europas ist auch eine Geschichte verschwundener Reiche. Das stolze Alt Clud, heute ein heruntergekommener Landstrich in Schottland, das sagenumwobene Burgund oder das preußische Kernland der Prussen, im 12. Jahrhundert eine terra incognita, aber im Verlauf der Geschichte einer der einflussreichsten Staaten Europas: Norman Davies spürte 15 solcher Reiche vor Ort und in bisher vernachlässigten Quellen nach. In diesem politisch wie historisch aufrüttelnden und sprachlich virtuosen Standardwerk erzählt er ihre Geschichte von der Entstehung bis zum Untergang - und wie wenig von ihrer großen Vergangenheit heute in Erinnerung geblieben ist. Denn das kollektive Gedächtnis ist wichtig, um das heutige Europa zu verstehen.

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