Im Bild: Denkmal für die Opfer des Massakers von Babyn Jar. © Guy Corbishley / Alamy Stock Photo
wbg: In Deutschland wurden der Nationalsozialismus, Holocaust und Weltkrieg unendlich gründlich aufgearbeitet. Trotzdem, sagen Sie, gibt es gravierende Lücken im Blick der Deutschen auf den Zweiten Weltkrieg. Welche?
Katja Makhotina: Ich würde hier die wissenschaftliche Aufarbeitung und das individuelle Bewusstsein trennen. Ich sehe vor allem als Problem, dass der Krieg im Osten meist nach wie vor als »ganz normaler« Krieg aufgefasst wird und seine Opfer als Opfer der Kriegshandlungen, die jeden Krieg auszeichnen. Während auf der kollektiven Ebene der Schuld des deutschen Volkes zugestimmt wird, treffen die Fragen nach der Mittäterschaft der eigenen Eltern und Großeltern doch weiterhin häufig auf Ablehnung.
Franziska Davies: Dem stimme ich zu. Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem Selbstbild Deutschlands als »Weltmeister« der Vergangenheitsbewältigung und der gesellschaftlichen Realität, sogar über die individuelle Ebene hinaus. Schauen Sie sich populäre Filme und Serien wie »Der Untergang« oder »Unsere Mütter, unsere Väter« an: Da erscheint der Nationalsozialismus und der Krieg als etwas, was über die Deutschen hereingebrochen ist, es wird vor allem die eigene Opferrolle betont, der Täterkreis letztlich auf einen kleinen Kreis fanatisierter Nazis reduziert.
wbg: Polen, das Baltikum, die Sowjetunion etc. wurden besetzt. All diese Staaten waren also zuallererst Opfer, Deutschland Aggressor und Täter. Was bedeutet dieser grundsätzlich unterschiedliche Ausgangspunkt für die Aufarbeitung, die Trauer- und Gedenkkultur?
Franziska Davies: Unmittelbar nach Kriegsende übernahmen autoritäre Regime die Macht in Osteuropa, eine offenere Auseinandersetzung mit der Geschichte ist erst etwa seit den 1980er Jahren möglich. Inzwischen wird sie aber in einigen Ländern wieder erheblich erschwert – die Auflösung der Menschenrechtsorganisation Memorial in Moskau, eine der wichtigsten Institutionen für die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus, ist hier eines der extremsten Beispiele. Zugleich gibt es innerhalb Osteuropas große Differenzen hinsichtlich der Bewertung von Opfer- und Täterrollen: Die Länder Ostmitteleuropas, wie etwa Litauen oder Polen und zunehmend auch die Ukraine, sehen sich als Opfer zweier totalitärer Regime, des Nationalsozialismus und des Stalinismus. Ein Selbstbild als Opfer und Widerstandskämpfer macht es auch schwer, die Beteiligung von Teilen der lokalen Bevölkerung an der Verfolgung und Ermordung der jüdischen Mitbürger und Mitbürgerinnen zu akzeptieren, obwohl diese inzwischen etwa in Litauen und Polen recht gut erforscht ist.
wbg: An welchen Gedenk-Ort in Osteuropa würden Sie mit einer deutschen Schulklasse zu allererst fahren wollen?
Katja Makhotina: Da ist es sehr schwer, eine Hierarchie aufzumachen. Es gibt so wahnsinnig viele Orte, an denen sich Schreckliches vollzogen hat und deren Geschichte in Deutschland viel zu wenig bekannt ist – Chatyn, Babyn Jar, das Leningrad der Blockade, Lwiw sind nur wenige Beispiele. Gerade diese Vielzahl der Stätten des Vernichtungskriegs hat uns auch beim Schreiben immer wieder beschäftigt. In einem Buch muss man eine Auswahl treffen, man kann nicht über alles schreiben. Und doch ist diese Auswahl stets unbefriedigend. Bei jedem Kapitel hätte es noch weitere Orte und Menschen gegeben, über die man hätte schreiben können, über die man sogar hätte schreiben müssen. Insofern verstehen wir unser Buch auch als Einladung, immer weiterzulesen, noch mehr erfahren zu wollen.
Zum Buch »Offene Wunden Osteuropas«
Zu den Beteiligten
Dr. Franziska Davies ist in Düsseldorf geboren. Sie wurde an der Ludwig-Maximilians-Universität München promoviert, wo sie Osteuropäische Geschichte lehrt. Zu ihren Forschungs- und Publikationsschwerpunkten zählt die moderne Geschichte Russlands, Polens und der Ukraine.
Dr. Katja Makhotina ist in St. Petersburg geboren, promovierte in München und lehrt Osteuropäische Geschichte an der Universität Bonn. Mit ihren Studierenden erforscht sie seit Jahren lokale Erinnerung an die osteuropäischen Opfer in Deutschland und engagiert sich in der Gedenkstättenarbeit.