»Offene Wunden Osteuropas«: Wie viel wissen wir über den zweiten Weltkrieg im östlichen Europa?

Wie hängt das, was derzeit in Europa geschieht, mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, mit der gewaltvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts zusammen? Bezüge zur Geschichte sind an allen Fronten zu beobachten. Putin legitimierte seinen Einmarsch in die Ukraine mit der absurden Behauptung, dass dieser nötig sei, um die Ukraine zu »denazifizieren« und einen »Genozid« zu verhindern. Damit griff der russische Präsident geschichtspolitisch an mehreren Fronten an: Er missbrauchte das anti-faschistische Erbe der Sowjetunion, die im Zweiten Weltkrieg Hitler-Deutschland besiegt hatte, um seinen Angriff auf ein friedliches Land zu rechtfertigen. Zugleich verhöhnte er damit die Opfer des Nationalsozialismus, was sich in diesem Fall besonders plastisch zeigt: Der demokratisch gewählte ukrainische Präsident, Wolodymyr Selenskyj, ist selbst Jude und Nachkomme von Überlebenden des Holocaust. Sein Großvater hat in der Roten Armee gegen die Wehrmacht gekämpft. In einer bewegenden Fernsehansprache an das russische Volk hatte Selenskyj dies zum Ausdruck gebracht: Wie könne er Nazi sein?

Auch den Genozid-Vorwurf wählte Putin wohl sehr bewusst, benutzte er damit doch die ultimative Schuldzuweisung, die gerade Hochkonjunktur hat. Scharf wie kein anderer Terminus teilt dieser Begriff Gemeinschaften in Opfer und Täter. In Russland werden seit einigen Jahren die Verbrechen der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg unter eben diesem Begriff subsumiert. Der Propaganda-Apparat wollte damit wohl die Menschen auf den Krieg vorbereiten und die Invasion gegen die Ukraine als Fortsetzung des Befreiungskampfes gegen den Faschismus erscheinen lassen. Zudem instrumentalisierte Putin auf diese Weise das schlimmste Trauma der Ukrainer und Ukrainerinnen im 20. Jahrhundert: den Holodomor, also die von Stalin herbeigeführte Hungersnot zu Beginn der 1930er-Jahre. Von dieser war zwar nicht nur die Sowjetukraine betroffen, sie kostete auch innerhalb Russlands und in Kasachstan Millionen Menschen das Leben, im Falle der Ukraine war sie aber auch gegen die Nation selbst gerichtet. Denn seit dem Russischen Bürgerkrieg galt die umkämpfte Ukraine als widerständig. Nach dem Zusammenbruch des russischen Zarenreiches und des Habsburger Reiches im Zuge des Ersten Weltkriegs hatte es mehrere Versuche gegeben, einen unabhängigen ukrainischen Staat zu gründen. In der Zentral- und Ostukraine waren es die im Bürgerkrieg siegreichen Bolschewiki, die diese Träume beendeten. Stattdessen wurde die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik in die neu gegründete Sowjetunion integriert und wurde damit de facto von Moskau aus regiert. Den Bolschewiki waren großrussische Ansprüche keineswegs fremd, eine unabhängige Ukraine akzeptierten sie nicht. Die Angst vor ukrainischer Resistenz war ein zentraler Faktor im stalinistischen Terror der frühen 1930er-Jahre. Mit der Hungerspolitik gegen die ukrainische Bauernschaft und der massenhaften Ermordung ukrainischer Eliten sollte auch das Rückgrat der ukrainischen Nation gebrochen werden. In der Geschichtswissenschaft ist zwar umstritten, ob es sich beim Holodomor um einen Genozid handelte – das ist in diesem Zusammenhang jedoch zweitrangig. Entscheidend ist, dass in der ukrainischen Erinnerungskultur die Begriffe Genozid und Holodomor untrennbar miteinander verbunden sind. Putin unterstellt der Ukraine also ausgerechnet ein Verbrechen, dem in den 1930er-Jahren über drei Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer zum Opfer gefallen waren, während die Verantwortlichen dafür in Moskau saßen.

 

»Die ausgeprägte Solidarität der polnischen Bevölkerung mit der Ukraine hängt auch damit zusammen, dass Polinnen und Polen das eigene historische Schicksal in der Ukraine wiederholt sehen: das Ausgeliefertsein an einen militärisch überlegenen Nachbarn, während die Welt zuschaut.«

 

Der Zweite Weltkrieg spielte auch in den deutschen Debatten in Bezug auf Russland und die Ukraine eine Rolle und das mindestens seit der Annexion der Krim im Februar 2014 und dem darauffolgenden Angriff auf den Donbas. Die Bundesregierung hat ihre Ablehnung von Waffenlieferungen an die Ukraine stets mit historischen Argumenten begründet: Aufgrund der Geschichte des Zweiten Weltkriegs könne Deutschland keine Kriegspartei werden. Implizit bedeutete dies auch: keine Kriegspartei in einem Krieg gegen Russland, dem Nachfolgestaat der Sowjetunion, die NS-Deutschland 1941 mit einem Vernichtungskrieg überzogen hatte. Es hat den Angriff auf Kyiv gebraucht, um diese Position zu ändern. Für die Ukraine, die ja immerhin selbst zu großen Teilen im Krieg Teil der Sowjetunion gewesen war, war es genau andersherum: Gerade, weil Deutschland für die Totalbesetzung ihres Landes im Zweiten Weltkrieg verantwortlich war, gerade weil so viele Menschen dort der deutschen Vernichtungspolitik zum Opfer gefallen waren, hatte Deutschland jetzt eine besondere moralische Pflicht, den Menschen dort gegen einen Aggressor beizustehen.

In Ostmitteleuropa war die Haltung Deutschlands zuvor auf großes Unverständnis, ja, auf Entsetzen gestoßen. Und auch hier spielte die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg eine Rolle. Ausgesprochen präsent ist in Polen, in den baltischen Staaten aber auch in der Westukraine die Erinnerung an den Nicht-Angriffspakt zwischen der Sowjetunion und Deutschland, den die beiden Mächte im August 1939 schlossen und in dem sie in einem geheimen Zusatzprotokoll die Aufteilung Ostmitteleuropas in eine sowjetische und in eine deutsche Einflusszone vereinbarten.

Haben wir die falschen Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen, vielleicht auch deswegen, weil über achtzig Jahre nach seinem Beginn die Erinnerung an den Krieg im östlichen Europa so lückenhaft ist? Wie viel wissen die Deutschen über jenes zentrale Ereignis in Polen, den Warschauer Aufstand von 1944? Damals erhoben sich die Polen gegen die übermächtigen deutschen Besatzer, um für ihre Freiheit zu kämpfen. Die vor der Stadt stationierte Rote Armee kam ihnen damals nicht zur Hilfe, hatte Stalin doch keinerlei Interesse an einem freien Polen. Die ausgeprägte Solidarität der polnischen Bevölkerung mit der Ukraine hängt auch damit zusammen, dass Polinnen und Polen das eigene historische Schicksal in der Ukraine wiederholt sehen: das Ausgeliefertsein an einen militärisch überlegenen Nachbarn, während die Welt zuschaut.

Auszug aus der Einleitung des Buches »Offene Wunden Osteuropas« von Dr. Franziska Davies und Dr. Katja Makhotina, das in persönlichen Berichten und Gesprächen mit Zeitzeugen zeigt, wie unterschiedlich die Erinnerung an den zweiten Weltkrieg in Deutschland und Osteuropa ist. Eine ausführlichere Leseprobe finden Sie auf der Produktseite des Buches.

 

Zum Buch »Offene Wunden Osteuropas«

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