Ein Gastbeitrag von Slavoj Žižek
Derzeit erleben wir den Übergang vom neoliberalen Kapitalismus zu einem sonderbaren Post-Kapitalismus, der manchmal als korporativer Neo-Feudalismus bezeichnet wird. Anders als von Marx erwartet, löst sich der Kapitalismus nicht selbst auf, wenn der Reichtum in keinem Verhältnis mehr zur direkten Arbeitszeit steht, die für die Vermögensproduktion aufgewendet wird, weil die entscheidende Rolle dabei der "General Intellect" spielt - also soziales Wissen und Kooperation. Stattdessen kommt es zur allmähliche Umwandlung des durch die Ausbeutung der Arbeit erzielten Profits in eine Rente, die durch die Privatisierung des "General Intellect" und anderer Gemeingüter angeeignet wird.
Mit Plattformen wie Facebook, die Räume unseres sozialen Austauschs und unserer Interaktion sind, werden Gemeingüter privatisiert, und wir als ihre Nutzer werden zu Leibeigenen, die eine Rente an unseren Feudalherrn, den Eigentümer des Gemeinguts, zahlen. Mark Zuckerberg "hat aufgrund seiner unangreifbaren Position an der Spitze von Facebook die uneingeschränkte Kontrolle über 3 Milliarden Menschen", so die Whistleblowerin Frances Haugen.
Damit verschwindet die große Errungenschaft der Moderne: der öffentliche Raum. Mittlerweile hat das Unternehmen seinen Namen von Facebook in Meta geändert, und Zuckerberg skizzierte in einer Rede, die einem neofeudalen Manifest gleichkommt, seine Vision des "Metaverse": ein virtueller Raum jenseits (meta) unserer fragmentierten und verletzlichen Realität, in dem wir durch unsere Avatare reibungslos interagieren. Das ist nichts Geringeres als die Verwirklichung der Meta-Physik: ein meta-physischer Raum, der die Realität vollständig umfasst, die nur insofern fragmentarisch in ihn eindringen kann, als sie von digitalen Richtlinien überlagert wird, die unsere Wahrnehmung und unser Wirken steuern. Der Haken an der Sache ist, dass wir ein Gemeingut bekommen, das sich in Privatbesitz befindet, mit einem privaten Feudalherrn, der unsere Interaktion überwacht und kontrolliert.
Wie nun lassen sich diese Gemeingüter vergesellschaften? In der berühmten Passage von "Was ist Aufklärung?" stellt Immanuel Kant den "öffentlichen" und den "Privatgebrauch" der Vernunft einander gegenüber: "Privat" ist dabei nicht der individuelle Raum im Gegensatz zu gemeinschaftlichen Bindungen, sondern innerhalb der gemeinschaftlich-institutionellen Ordnung; "öffentlich" ist die übergreifende Universalität der Vernunftausübung. Kants Formel der Aufklärung lautet nicht "Gehorche nicht, denke frei!", nicht "Gehorche nicht, denke und rebelliere!", sondern: "Denke frei, äußere deine Gedanken öffentlich, und gehorche!" Das gilt auch für Impfgegner: Debattiere, mach Deine Zweifel öffentlich, aber befolge die Vorschriften, die die öffentliche Hand auferlegt. Ohne einen solchen praktischen Konsens driften wir in eine Gesellschaft unverbundener Splittergruppen ab. Und ohne den Raum für den öffentlichen Gebrauch der Vernunft läuft der Staat selbst Gefahr, nur eine weitere Instanz für ihren privaten Gebrauch zu werden.
Über das Buch
Pandemie, Klimawandel, verzweifelte Flüchtlinge, ein Krieg in Europa: In der Welt regiert das Chaos. Gesellschaftliche Probleme, soziale Ungleichheit und internationale Konflikte wirken erdrückend, Fortschritt scheint kaum mehr möglich. Können kritisches Denken und die moderne Philosophie Antworten finden? Die »Unordnung unter dem Himmel« erkannte Mao Zedong als eine Chance für Neuanfänge. Aber vielleicht hat die Unordnung mittlerweile den Himmel selbst erreicht? Slavoj Žižek, Philosoph, Psychoanalytiker und Kommunist, geht den aktuellen Krisen auf den Grund und lotet in seinen Lageberichten ihr Potenzial für Veränderungen aus.
Slavoj Žižek analysiert Texte von Orwell und Rammstein, Lenin und der Bibel und sucht universelle Wahrheiten auf lokalen politischen Schauplätzen. Er blickt auf die Zersplitterung der Linken, die leeren Versprechen der liberalen Demokratie und die lauen Kompromisse der Mächtigen. Nicht ohne Grund bezeichnete ihn DER SPIEGEL als »Popstar unter den Philosophen«!
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Zu den Beteiligten
Slavoj Žižek ist hegelianischer Philosoph, lacanianischer Psychoanalytiker und Kommunist. Er gehört zu den bekanntesten Philosophen und Kulturkritikern der Gegenwart und ist International Director am Birkbeck Institute for Humanities der University of London, Visiting Professor an der New York University sowie Professor für Philosophie an der Universität seiner slowenischen Heimatstadt Ljubljana.