Ein Gastbeitrag von Dr. Guillaume Payen
Soll man heute noch Heidegger lesen? Welchen Sinn hat es, die historische Biographie eines Philosophen zu lesen? Warum haben Sie sich seit nun zwanzig Jahren mit Heidegger beschäftigt? Solche Fragen werden mir oft gestellt.
Geht es bei der Heidegger-Lektüre darum, modern zu sein oder darum, unsere Moderne zu verstehen? Längst gilt die analytische Philosophie als moderner, und Heideggers Freiburger Lehrstuhl ist heute dieser philosophischen Richtung gewidmet. Aber wenn die Bedeutung einer Philosophie nur in ihrer Aktualität läge, bräuchten wir auch nicht Platon oder Aristoteles, Lukrez oder Seneca lesen. Nicht mehr ganz modern und uns aufgrund seines Nazismus fremd, wird Heidegger wirklich Geschichte. Dank dieser Distanzierung ist er kein absoluter Meister mehr. Will man Kants Motto „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ folgen, dann ist jetzt die richtige Zeit um Heidegger zu lesen, weil es einfacher ist, ihn echt philosophisch, also kritisch zu lesen. Was Heidegger in Sein und Zeit über die Medien und den Verlust der Eigentlichkeit schrieb, ist im Zeitalter der Social Media noch aktueller. Man muss mit ihm nicht einverstanden sein, aber seine Ideen können uns helfen, unsere moderne Kultur besser zu begreifen. Diese Distanzierung, diese kritische Interpretation vollzieht sich dann, wenn man Heidegger sowohl philosophisch als auch geschichtlich versteht. Dafür braucht es eine historische Biographie.
Geschichtswissenschaft versucht, die Vergangenheit zu rekonstruieren und zu erklären; sie kommt nur zum Ziel, wenn sie nicht ständig urteilt. So wundern sich manche Philosophen darüber, dass ich Heideggers Philosophie darstelle, ohne sie in Frage zu stellen. Es ist aber weder Aufgabe eines Biographen noch eines Historikers, eine Person zu kritisieren. Was ich wollte, ist: ein Leben nachzeichnen, eine Zeit verstehen. Meine Leser können von Heideggers Philosophie übernehmen oder verwerfen, was sie wollen.
Ein Historiker hat seine eigenen Fragen. Am Anfang meiner Recherchen stand die Verwunderung, dass man sich in den Philosophie-Vorlesungen, die ich besuchte, Heideggers nationalistische Geschichtsbetrachtung zu eigen machte. Dieser wies seinem Volk, dem „metaphysischen Volk“, dem „Volk des Dichtens und Denkens“ die Aufgabe zu, nach dem lateinischen Mittelalter die griechische Philosophie zu neuem Leben zu erwecken. Dieser Gedanke wurde nie in den völkischen Kontext gestellt, in den er gehörte, den des Dritten Reichs. Zwar erschien es mir unwahrscheinlich, dass sich in der Heidegger‘schen Geschichtsauffassung ganz platt das NS-Regime ausdrücken würde, für noch fraglicher hielt ich es aber, dass es überhaupt keine Verbindung geben sollte. Diese Verbindung aufzuspüren war ein ebenso spannendes wie behutsam anzugehendes Unterfangen, das eine gleichermaßen historische wie philosophische Herangehensweise verlangte.
Seit diesem Anfang sind fast zwanzig Jahren vergangen, Heidegger ist Thema geblieben, weil er so viele und so reiche Quellen geliefert hat, die neuen Ansichten über die Geschichte ermöglichen.
Über die Bücher
»Heidegger – Die Biographie«
Die Person Martin Heidegger nicht verurteilen oder entschuldigen, sondern seine Lebensgeschichte nachzeichnen und sein Denken von innen heraus und in seiner Zeit verstehen: Das ist das Ziel, das sich der französische Historiker und Philosoph Dr. Guillaume Payen für dieses Buch gesetzt hat. Seine umfassende Heidegger-Biografie ist das Ergebnis jahrzehntelanger Forschungsarbeit. Sie macht Schluss mit Tabus und eröffnet neue Perspektiven im Diskurs über einen der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts.
- Heideggers Leben und Werk: eine quellensatte und gut lesbare Biografie
- Vom angehenden Priester zu den »Schwarzen Heften«: Die vielen Seiten Heideggers
- Todtnauberg: Eine schlichte Hütte als Rückzugs- und Schaffensort
- Antisemitismus und jüdische Freunde: Heidegger und der Nationalsozialismus
- Vorlesungen, Briefwechsel, philosophische Texte: Was die Quellen über ihn aussagen
»Heidegger: Denkwege«
Die beste Einführung in das Denken von Martin Heidegger sind seine vierbändigen »Denkwege«. Diese Spätschriften enthalten eine Einführung in sein Denken (Band 1), die Schriften zur geschichtlichen Bedeutung der Technik (Band 2), den »Satz vom Grund« - Nihil est sine ratione (Band 3) bis zu seiner Hinwendung zur Sprachphilosophie (Band 4). Jetzt in der korrigierten Fassung seiner persönlichen Handexemplare: Martin Heideggers vierbändige Denkwege.
Weiterführende Links
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Zu den Beteiligten
Dr. Guillaume Payen forscht am Centre d'histoire du XIXe siècle und lehrt Deutsche Geschichte an der Sorbonne in Paris. Seine Forschungen zu Heideggers Antisemitismus wurden von der »Fondation pour la Mémoire de la Shoah« gefördert. Seine Biographie über Martin Heidegger wurde mit dem Prix Maurice-Baumont ausgezeichnet.