Daniel Zimmermann: Liebe Frau Hellmayr, Heinrich Schliemann wurde 1822 in einem Dorf in Mecklenburg-Vorpommern geboren und entdeckte 51 Jahre später in Hissarlik den Schatz des Priamos. Tatsächlich aber war es ihm keineswegs in die Wiege gelegt, als Archäologe unsterblich zu werden. Vielmehr war er ja von einer nicht zu bändigenden Rastlosigkeit und schien mehrere Leben zu haben. Welche unterschiedlichen Stationen und Leistungen machen seinen Lebensweg aus?
Leonie Hellmayr: Sehr prägend für Schliemann war sein schwerer Start ins Leben, bedingt durch die zerrütteten Familienverhältnisse, in denen er aufwuchs. Seine Mutter starb, als er gerade einmal neun Jahre alt war, und sein Vater, eigentlich ein Pastor, verhielt sich alles andere als moralisch und vorbildlich, worunter insbesondere die Kinder litten. Letztendlich brach die Familie auseinander, und wegen finanzieller Schwierigkeiten musste Schliemann das Gymnasium abbrechen und stattdessen eine Kaufmannsausbildung absolvieren.
Nach der Lehre zog es Schliemann sofort weg aus dem rückständigen Mecklenburg, um fernab der Heimat sein Glück zu finden. Mit viel Disziplin, Talent, Ehrgeiz und Durchhaltevermögen begann er eine steile Karriere als Kaufmann, war mit Anfang 30 bereits Millionär. Doch irgendwann erfüllte sein Beruf ihn nicht mehr, so dass er ihn aufgab. Zugleich verlief seine erste Ehe unglücklich; und er litt auch sehr unter seiner lückenhaften Bildung.
1868 kam dann das Schlüsselerlebnis: eine Reise nach Griechenland. Inspiriert von seinen Erkundungen, etwa auf Ithaka, und angetrieben von seiner tiefen Homergläubigkeit hatte er einen neuen Lebenssinn gefunden: Die Archäologie, genauer die Suche nach Troja. Schließlich wurde Schliemann ja vor allem mit seinen sensationellen Entdeckungen in Hissarlik und in Mykene weltberühmt.
Heinrich Schliemann als reicher St. Petersburger Kaufmann
Daniel Zimmermann: Er war in St. Petersburg und Kalifornien, reiste den Nil entlang und grub in Griechenland und der Türkei – welchen Kontinent hatte er eigentlich nicht gesehen?
Leonie Hellmayr: Nun, mal abgesehen von Australien und der Antarktis hat Schliemann seinen Fußabdruck tatsächlich auf jedem Kontinent hinterlassen. Es gibt kaum einen Flecken Erde, wo er nicht hingereist ist. Unbändiger Wissensdurst trieb ihn dabei an; vor Ort schien er die vielen Eindrücke geradezu aufzusaugen. Weder die großen Gefahren, die solche Reisen damals mit sich brachten, noch die zum Teil höchst unbequemen Fortbewegungsmittel hielten ihn davon ab, seinem Entdeckungsdrang zu folgen – auch das muss einmal betont werden.
Daniel Zimmermann: Woher entstammte Schliemanns Besessenheit für Homer, für Troja? Wo er doch aus ganz anderen beruflichen Kreisen kam?
Leonie Hellmayr: Laut seiner Autobiografie war er bereits im Kindesalter fest dazu entschlossen, Troja zu entdecken. Ob das allerdings stimmt, ist fraglich. Tatsächlich »schnupperte« er nach dem Ende seiner Kaufmannskarriere in unterschiedliche Fächer hinein, schrieb sich an der Sorbonne zunächst für Philologie, Philosophie und Literatur ein. Seine späte Hinwendung zur Archäologie bzw. zu den homerischen Epen, für die zu jener Zeit allgemein ein großes Interesse entfacht war, war kein unüblicher Lebensweg im 19. Jahrhundert. Eine interessante Parallele findet sich beispielsweise in Henrik Ibsens zeitgenössischem Gedicht »Peer Gynt«: Es ist die Aufstiegsgeschichte eines armen Mannes zum erfolgreichen Geschäftsmann, der sich im zweiten Lebensabschnitt vom Beruf abwendet und den Musen hingibt.
Daniel Zimmermann: Sie sind selbst studierte Archäologin: War der Entdecker von Mykene, Tiryns und Troja ein guter Archäologe, in seiner Zeit und aus heutiger Sicht?
Leonie Hellmayr: Schliemann hat aus heutiger Sicht viele Fehler gemacht, etwa, als er auf seiner besessenen Suche nach dem homerischen Troja andere bedeutsame Schichten rigoros abtrug, die uns dadurch unwiederbringlich verloren gegangen sind. Einer korrekten archäologischen Vorgehensweise entsprach das keineswegs, und bereits manch einer seiner Zeitgenossen verstand es viel besser, durch umfassende Dokumentation und Archivierung der Fundkontexte eine Arbeit zu leisten, die heute für die Archäologen ganz selbstverständlich ist.
Dennoch scheint es mir nicht richtig, Schliemanns Verhalten grundsätzlich zu verurteilen. Zum Einen war er längst nicht der einzige, der im archäologischen Sinne »unsauber« arbeitete. Archäologie war im 19. Jahrhundert ein ganz junges Fach, und jeder, der sich damit beschäftigte, leistete gewissermaßen Pionierarbeit. Manchmal lagen diese Pioniere richtig, manchmal begingen sie Fehler. Sie hatten keine Vorlage, auf die sie sich stützen konnten, sie mussten daher ausprobieren und Erfahrungen sammeln. Zum Anderen ist Schliemann zugute zu halten, dass er stets bereit war, von erfahreneren Kollegen zu lernen und deren Ratschläge umzusetzen.
Wilhelm Dörpfeld (oben links) und Heinrich Schliemann (oben rechts) auf dem Löwentör von Mykene, ca. 1885
Daniel Zimmermann: 1890 starb Schliemann, reich und hoch berühmt. Müssen wir uns Heinrich Schliemann als glücklichen Menschen vorstellen?
Leonie Hellmayr: Der riesige Fundus an Quellen, der uns zu Heinrich Schliemann überliefert ist, hinterlässt eher den Eindruck eines Mannes, der zeitlebens von einer inneren Unruhe gequält wurde. Seine Rastlosigkeit hörte niemals auf, weder mit der glanzvollen Karriere und dem Reichtum, noch mit den großartigen Entdeckungen und dem daraus folgenden Ruhm. Selbst in seinen letzten Lebensjahren war Schliemann ständig unterwegs, nur selten hielt er inne, nur selten schien er das Erlangte in Ruhe zu genießen oder einfach mal mit seiner Familie Zeit verbringen zu wollen – nicht einmal in der prachtvollen Stadtvilla in Athen, die er sich zehn Jahre vor seinem Tod noch hatte erbauen lassen, hielt er sich längere Zeit am Stück auf.
Schliemann verstand es nicht, zu verweilen, zu genießen, die Früchte zu ernten. Bis zum Ende seines Lebens schien er auf der verzweifelten Suche nach etwas zu sein.
Iliou Melathron, der Palast von Ilion: das prachtvolle Neorenaissance-Palais, dass sich Schliemann 1878/79 im Athener Stadtzentrum bauen lies, ca. 1900.
Daniel Zimmermann: Liebe Frau Hellmayr, ich danke Ihnen ganz herzlich für dieses Gespräch!
Zum Buch »Heinrich Schliemann und die Archäologie«
Zu den Beteiligten
Leoni Hellmayr studierte Klassische Archäologie und Alte Geschichte an der Universität Freiburg. Heute ist sie als freie Fachjournalistin und Autorin tätig. Seit 2023 ist sie Chefredakteurin der wbg Zeitschriften ANTIKE WELT und Archäologie in Deutschland.
Daniel Zimmermann lebt in Mainz und ist Programmmanager im wbg-Lektorat Geschichte. Dort ist er zuständig für die Programme wbg Theiss, wbg Edition, wbg Academic und wbg Zabern.