Vom Vergessen ans Licht: Ein Autor im Exil

Eine Spurensuche zum Autor Ernst Weiß, angeregt durch die neue EXIL-Trilogie der wbg

von Elisabeth Langer

 

Rund 1.500 Schriftstellerinnen und Schriftsteller flohen zwischen 1933 und 1950 vor Nationalsozialismus und Verfolgung aus Deutschland. In der neuen EXIL-Trilogie der wbg werden ihre Emigrationsgeschichten und Werke zusammengetragen. Unter ihnen war auch der Schriftsteller Ernst Weiß. Obwohl wiederholt zu den bedeutendsten Romanciers des 20. Jh. gezählt, blieb sein Werk bis heute weitgehend unbekannt. Wer war dieser Mann, der, von Beruf zunächst Arzt, erst spät mit dem Schreiben begann und bis zu seinem Freitod 1940 ein bemerkenswertes Œvre mit zahlreichen Romanen, Gedichten, Dramen, Essays, Erzählungen und feuilletonistischen Arbeiten schuf? Die Spur führt von Brünn nach Paris und trifft dabei auf Kafka ebenso wie auf Thomas Mann und Anna Seghers. Elisabeth Langer hat sich mit Weiß beschäftigt und viele interessante Facetten in dessen Leben und Werk vorgefunden.

Als Sohn eines jüdischen Tuchhändlers 1882 im Brünn der Donaumonarchie geboren, waren es zunächst die Studienjahre in Prag und Wien, die Erfahrungen als Chirurg, die Fin de Siècle-Stimmung und die Bekanntschaft mit Autoren des Prager Kreises, die Weiß prägten. Literaten wie Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler gelangten zu Ruhm und entwarfen in ihren Dramen und Erzählungen Seelenbilder ihrer Zeit. Ebenso ist die Faszination, die Sigmund Freuds Psychoanalyse auf eine ganze Generation ausübte, in Weiß‘ Werk zu spüren. Schon in seinem Erstlingsroman »Die Galeere« erwies sich die Kombination von Arzt und Schriftsteller als fruchtbar. Mit zum Teil messerscharfer Genauigkeit seziert Weiß fortan Seelenzustände. Immer wieder sind es Wissenschaftler, Ärzte, Menschen mit besonderen Fähigkeiten, die Krankheitszustände diagnostizieren, selbst aber die Krankheit einer Gesellschaft, so wie Weiß sie angesichts der beiden Weltkriege empfand, in sich tragen.

Die Jahre 1912/13 verbrachte Weiß – als Schiffsarzt und um eine Lungenkrankheit auszuheilen – auf See. Nach seiner Rückkehr lernte er Franz Kafka kennen, der ihn in seinen schriftstellerischen Versuchen bestärkte und mit dem ihn fortan eine intensive, wenngleich nicht unproblematische Freundschaft verband. Den Ersten Weltkrieg erlebte Weiß als Regimentsarzt sowohl an der Ostfront als auch in Lazaretten im Hinterland. In den frühen Nachkriegsjahren fiel dann sein endgültiger Entschluss, den Arztberuf aus gesundheitlichen Gründen aufzugeben und sich ausschließlich dem Schreiben zu widmen. Er zog nach München und dann nach Berlin. Zahlreiche Romane wie »Nahar« oder der Balzac-Roman »Männer in der Nacht« erschienen, 1928 wurde er mit dem Adalbert Stifter Preis ausgezeichnet und gewann zudem eine aus heutiger Sicht sehr ungewöhnliche Auszeichnung: eine Silbermedaille bei den Kunstwettbewerben der olympischen Sommerspiele in Amsterdam. Die »Machtergreifung« durch die Nationalsozialisten und der Reichstagsbrand beendeten jäh diese produktive Schaffensphase. Weiß verließ Deutschland und ging zurück nach Prag. Nach dem Tod seiner Mutter und einem Jahr tiefer Resignation emigrierte er Anfang 1934 nach Paris, wo er nur durch finanzielle Unterstützung von Stefan Zweig und Thomas Mann überleben konnte.

 

Vor allem in der späteren Exilphase litt er unter der beständigen Scham, Bittbriefe an Schriftstellerkollegen oder Hilfsorganisationen schreiben zu müssen.

 

Der interessanteste und für eine zumindest zeitweise Wiederentdeckung des Autors ausschlaggebende Roman von Weiß ist »Der Augenzeuge« (»Ich, der Augenzeuge«), der 1938/39 entstand und erst 1963 posthum veröffentlicht wurde. Das Werk ist als fiktive Autobiographie angelegt und erzählt die Lebensgeschichte eines Arztes in der Zeitspanne vor dem Ersten Weltkrieg bis zum Spanischen Bürgerkrieg. Eingebunden ist eine Episode um den Gefreiten A. H., den der Arzt von hysterischer Blindheit kuriert und sich damit unwissentlich mitschuldig macht an dessen späterem zerstörerischen Aufstieg. Durch sein Wissen über A. H. wird der Arzt-Erzähler zum »Augenzeugen« und zu einer Gefahr für die Nationalsozialisten.

In den meisten seiner Werke schildert Ernst Weiß seelische Katastrophen und gelangt tief hinab in die Psyche des Menschen. Es geht um die Glaubwürdigkeit von Gefühlen und Bindungen, um Verlust von Werten und um die zerstörerische Macht menschlicher Triebe. Immer wieder sehen sich seine Protagonisten am Scheidepunkt zwischen Macht und Verantwortung, zwischen Forscherdrang und moralischer Gefährdung.

Viele Texte sind von einer Schwere durchzogen, die auch der Autor in sich trug. Vor allem in der späteren Exilphase litt er unter der beständigen Scham, Bittbriefe an Schriftstellerkollegen oder Hilfsorganisationen schreiben zu müssen. Er war ein Einzelgänger, den das Schicksal der Emigranten, der Verlust des Publikums und die Schwierigkeit, überhaupt noch einen Verlag für seine Werke zu finden, besonders hart trafen. Nachdem er sich bis zuletzt schreibend gegen den Untergang zu wehren versucht hatte, konnte er 1940 nicht mehr standhalten und nahm sich beim Einmarsch der deutschen Truppen in Paris das Leben. Eine derjenigen, die in der letzten Phase noch mit ihm zusammentraf, war die Schriftstellerin Anna Seghers. Sie hat sein Schicksal später in ihrem Roman »Transit« in der Gestalt Weidels verarbeitet. Seghers konnte den Tod von Weiß nicht verhindern, ebenso wenig wie ein Visa für die USA, das auf Wirken von Thomas Mann bereits unterwegs war. Weiß zog den Freitod dem Leben in einem weiteren Exilland, den Schrecken der Flucht oder einer möglichen Internierung vor. So kurz und niederschmetternd sein Leben oft war, so reich war es doch über weite Strecken an Schaffenskraft und so spannend in den Verbindungen zu den Intellektuellen seiner Zeit. Die neue EXIL-Ausgabe der wbg bietet die Chance, über Kurztexte und Fundstücke aus der Exilpresse auf Menschen wie Ernst Weiß aufmerksam zu werden und spannende Werke und Biographien neu zu entdecken.

 

Über das Buch »Exil!«

Nationalsozialismus, Judenverfolgung und Krieg: In der Zeit zwischen 1933 und 1950 lebten viele Literaturschaffende im Exil. Die Flucht aus Deutschland verstreute Schriftsteller und Schriftstellerinnen in ganz Europa, Nord- und Südamerika und Asien. Das Kompendium sammelt erstmals ihre Stimmen aus Zeitschriften für deutschsprachige Exilliteratur wie »Neue Weltbühne«,»Aufbau« oder »Pariser Tageblatt«. In einer unübertroffenen Bandbreite versammelt diese Anthologie kleine Formen der Exilliteratur in einer enormen Vielfalt von Stilen, Schreibweisen und Themen.

  • Ein repräsentativer Querschnitt: Beispiellose Sammlung von im Exil entstandener Kurzprosa
  • Drei Bände im Schuber: Erzählungen, Glossen, Anekdoten und Reportagen aus deutschsprachigen Exil-Zeitschriften
  • Mit Werken von Autoren und Autorinnen wie Anna Seghers, Thomas Mann, Heinrich Mann, Roda Roda und vielen anderen
  • Ausgewählt von Hans-Albert Walter, herausgegeben von Ulrich Faure und Peter Graf

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  • Lesetipps dazu:

    Ernst Weiß' und Ludwig Winders Romane gehören seit längerem schon zu meinen "Geheimtipps". Zu empfehlen wäre z. B. von Ernst Weiß der Roman "Der Gefängnisarzt und die Vaterlosen" und von Ludwig Winder der rar gewordene Roman "Die Reitpeitsche": Hier erfährt man etwas von der Vorgeschichte, die (nicht nur für beide Autoren) ins Exil führt.

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