Kulturelles Erbe verbindet und trennt: Es markiert Grenzen und Unterschiede, Ansprüche und Forderungen. Nationen haben sich ihr kulturelles Erbe immer so zurechtgelegt und ausgestellt, dass sich die eigene Gesellschaft besser und stärker fühlte als ihre Nachbarn.
Bedürfnisse und Herausforderungen
Ein »Erbe« (französisch »patrimoine«, englisch »heritage«) ist eine Gabe der Vorfahren, die uns über den Tod hinweg mit ihnen verbindet. In dem Moment, wo wir etwas als »kulturelles Erbe« bezeichnen, haben wir es angenommen und treten dieses Erbe an. Die affirmative Annahme des Erbes eröffnet eine historische Langzeitperspektive, die von der Vergangenheit in eine unbegrenzte Zukunft reicht. Kulturelles Erbe ist somit der materielle und immaterielle Teil des kulturellen Gedächtnisses, der zur aktiven Übernahme und Weitergabe bestimmt ist.
Die Ergänzung von materiell durch immateriell ist dabei ganz wichtig. Bis ins Jahr 2003 wurde die Qualität von Kulturen nämlich ausschließlich am Maßstab materieller Hinterlassenschaften westlicher Kulturen gemessen. Sogenannte »Gedächtniskulturen« hatten in Sachen Kulturerbe nicht punkten können, denn sie hatten keine Museen, Archive oder Bibliotheken aufzuweisen und folglich, wie es hieß, auch keine Geschichte, sondern nur Griots, Barden und Folklore als physisch prekäre und ephemere Träger von Traditionen. Mit der Kategorie des »immateriellen Kulturerbes« (intangible cultural heritage) hat die UNESCO eine kulturimperialistische Schielage beendet, indem sie anerkannte, dass es nicht nur entkörperte, sondern auch verkörperte Medien des kulturellen Gedächtnisses gibt, die Kulturen durch Aufführungen und Praktiken, Singen und Tanzen, Musizieren und Erzählen, Kochen und Töpfern, Riten und Feste über Generationen hinweg aufrecht erhalten.
Kulturelles Erbe gilt als ein Schatz, der, wenn es um Riten und Praktiken vom Oktoberfest bis zum Wiener Walzer geht, besonders geplegt wird, und für den, wenn es um materielle Bestände wie Schlösser und Landschaften geht, ein besonderer Schutz aufgeboten wird. Für diesen Schutz, zu dem besondere Maßnahmen der Bewahrung gehören, muss man Einschränkungen der Erneuerung und Entwicklung in Kauf nehmen.
Die Erhaltung und Wertschätzung kulturellen Erbes entspringt ganz unterschiedlichen Gefühlen, Werten und Bedürfnissen. Da ist an erster Stelle der Stolz zu nennen. Das Erbe, das jeweils angetreten wird, stiftet einen identiikatorischen Bezug. Dieser Identitäts-Bezug stiftet innerhalb einer Gruppe zugleich eine affektive Bindung zur eigenen Geschichte und Region. Das kulturelle Erbe wird dabei zum wichtigen Bestandteil einer kollektiven Biographie, sie stützt die Identität der Region oder Nation wie ein Stammbaum oder eine Familiengeschichte. Man blickt gern zurück auf eine lange, ununterbrochene Geschichte, und wenn es diese nicht gibt, projiziert man sie eben von der Gegenwart aus zurück in die Vergangenheit.
»Kulturelles Erbe gilt als ein Schatz, der, wenn es um Riten und Praktiken vom Oktoberfest bis zum Wiener Walzer geht, besonders geplegt wird. Und für den, wenn es um materielle Bestände wie Schlösser und Landschaften geht, ein besonderer Schutz aufgeboten wird.«
Ein weiterer Grund für die Konjunktur kulturellen Erbes ist das Gefühl einer wachsenden Unsicherheit in Bezug auf die eigene Identität in einer globalisierten Welt, die sich überstürzt verändert. Damit sich eine Gruppe als solche wiedererkennen und fortbestehen kann, stützt sie sich auf die Symbolkraft eines gemeinsamen Erbes. Es gibt als Bedürfnis drittens auch die Sorge und Vorsorge um gefährdete Kultur-Bestände. Angesichts der zunehmenden Erfahrung von Verfall, Vergessen und Verlieren, aber auch von Gewalt und Zerstörung, ist die Haltung einer gemeinsamen Verantwortung und Verplichtung für die Zukunftssicherung eines gemeinsamen Erbes der Menschheit gewachsen. Wo immer kulturelles Erbe durch Naturkatastrophen, terroristische Gewalt oder Vernachlässigung bedroht ist, tun sich Staaten zusammen, um Bestände zu retten oder wiederherzustellen.
Wer ist die Menschheit?
Ein kulturelles Erbe verbindet nicht nur Menschen mit Mitmenschen, sondern diese auch mit ihren Vorfahren und Nachkommen. Kulturen sind deshalb auf Langfristigkeit und Nachhaltigkeit angelegt. Sie überschreiten Grenzen in der Zeit und im Raum durch den Import und Export von Büchern, durch Übersetzungen, Aneignungen und Umdeutungen. Durch Kontakt mit anderen Kulturen verwandeln sie sich, gehen ineinander über, inspirieren und modiizieren sich gegenseitig. Sie lassen sich weder stillstellen noch in nationale Grenzen einsperren. So gesehen gehört geistiges kulturelles Erbe wie Literatur und Musik nicht nur denen, die es »besitzen«, sondern auch denen, die es sich aneignen. Ob es die Menschheit gibt oder nicht, ist eine müßige Frage. Sie entsteht immer dort, wo Menschen ihre Perspektiven erweitern, global Verantwortung übernehmen, ihre Kompetenzen zusammenlegen und in gemeinsamer Anstrengung Prinzipien für eine globale »Wohlfahrtswelt« (Gunnar Myrdal) umsetzen. Der Begriff gewinnt konkrete Bedeutung immer nur dann, wenn er sich mit einem kollektiven Bewusstsein, praktischen Aufgaben und aktuellen Projekten verbindet.
In der Aufklärung wurde der Begriff Menschheit neu erfunden als Grundlage für die Deklaration der Menschenrechte. Die Sorge um ein gemeinsames Kulturerbe der Menschheit gibt es seit dem 19. Jahrhundert, als sich Nationen zusammentaten, um neue Statuten gegen Vandalismus und für einen globalen Denkmal- und Kulturschutz auszuarbeiten. Für das Kulturerbe ist die UNESCO entstanden. Angesichts der Bedrohtheit des Planeten braucht es für das Naturerbe ebenfalls eine Institution und ein »globales Wir« der Menschheit, um handlungsfähig zu werden. Die Devise dafür könnte der Philosoph Karl Jaspers beisteuern: »Wahr ist, was uns verbindet.«
Ambivalenzen des Begriffs
Als der Begriff »heritage« in den 1980er Jahren aufkam, geriet er bei Historikern umgehend in Verruf, die in ihm einen Gegenbegriff zu »history« sahen. Unabhängig von solchen Befürchtungen blüht inzwischen neben der Geschichtswissenschaft eine Heritage Industrie, die den Unterhaltungs, Tourismus- und Identitätswert von historischen Orten, Relikten und kulturellen Überlieferungen touristisch vermarktet. »Putting the story back into history« lautet eine Devise dieser massenwirksamen, populären Heritage Plege, die Geschichte unbekümmert mit Legenden mischt und in Themenparks inszeniert. Inzwischen gibt es an den Universitäten auch die »critical heritage studies«, die kollektive Formen der Selbstinszenierung auf das hin befragen, was wir jeweils vergessen oder kategorisch ausschließen und abwehren. »Heritage Studies« sind längst zu einem wichtigen Zweig kulturwissenschaftlicher Forschung geworden. Ein Beispiel ist das renommierte Getty Forschungszentrum in Los Angeles, das die Wahl ihrer neuen Direktorin mit folgenden Worten begründete: das Getty Institut braucht »eine Direktorin mit einer neuen Perspektive, die neue Praktiken im Umgang mit der Ausbreitung und Verteilung kulturellen Erbes entwickelt und einen globalen Zugang zur Kunstgeschichte eröffnet.«
»Wie kann man gemeinsam und produktiv über trennende und verbindende Aspekte kulturellen Erbes nachdenken?.«
Kulturelles Erbe verbindet und trennt: Es markiert Grenzen und Unterschiede, Ansprüche und Forderungen. Nationen haben sich ihr kulturelles Erbe immer so zurechtgelegt und ausgestellt, dass sich die eigene Gesellschaft besser und stärker fühlte als ihre Nachbarn. Im Zeitalter transnationaler Verbindungen und globaler Beziehungen gibt es aber auch andere Perspektiven für die Wertschätzung kulturellen Erbes. 2018 lautete das Jahresmotto der EU »Sharing Heritage«. Dieser Imperativ könnte sich auch für die globale Zukunft postimperialer Staaten und ihre ehe maligen Kolonien anbieten. Mit der Perspektive eines »geteilten Kulturerbes« könnten wir die Ära nationaler Überheblichkeit hinter uns lassen und den Raum verschränkter Beziehungsgeschichten betreten.
Kulturelles Erbe strahlt heller, wenn es nicht nur der eigenen Proilierung dient, sondern auch die Wertschätzung der anderen genießt. Kulturelles Erbe, das einst als Trophäe geraubt und angeeignet wurde, wandert nun vielfach zurück und könnte dabei zum Ausgangspunkt und Unterpfand einer gemeinsamen Geschichte werden. »Translocations – historische Untersuchungen verschleppter Kulturgegenstände« lautet der Titel einer internationalen Konferenz, die im Dezember 2019 in Berlin stattfand. Diese Frage wird uns noch länger beschäftigen: Wie kann man jenseits der Kategorien »Raub und Restitution« gemeinsam und kreativ über trennende und verbindende Aspekte des kulturellen Erbes nachdenken?
Zum Schwerpunkt »Was ist Kultur?«
Zu den Beteiligten
Aleida Assmann, em. Professorin für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz, ist eine Koryphäe für Erinnerungs- und Gedächtnisforschung. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Jan Assmann hat sie ein Lebenswerk vorgelegt, das unter dem Titel »kulturelles Gedächtnis« weit über ihre eigenen Fächer hinaus ein neues Paradigma geworden ist und in viele Länder gewirkt hat. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.