Warum das christliche Abendland im Orient geboren wurde. Eine Bildungsreise mit Bernhard Braun

Ein kleinmütiger Geist flaniert durch Europa. Er macht sich bemerkbar in martialisch vorgetragenen und ausgrenzend gemeinten Beschwörungen eines »christlichen Abendlands«. Dazu kommt eine biedermeierlich anmutende Renaissance des Nationalismus, der noch vor wenigen Jahren als Auslaufmodell galt.

Höchste Zeit, angesichts eines solchen Klimas der Rückwärtsgewandtheit die Geschichte Europas neu zu erzählen. Sie begann mit dem Raub einer levantinischen Königstochter durch Zeus. Dieses spektakuläre Theaterstück erinnert daran, dass Europa keine Europäerin war, also einen Migrationshintergrund hat. Es zeigt, dass sich Europa dem Herauswachsen aus dem Orient und den Kontakten zwischen zahlreichen Kulturen verdankt. Über viele Jahrhunderte bildeten Anatolien und die kleinasiatische Küstenregion das Labor, in dem die Vorgaben aus Mesopotamien, die Beiträge der Lyder, Phryger, Thraker, Hethiter, Lykier und anderer unter der Federführung von Persern, Griechen und Römern für Europa aufbereitet wurden. Die Beiträge umfassten sämtliche kulturelle Felder, von den Religionen über die Philosophie, Rechtssysteme, Politik, Kunst, Architektur bis zu Wissenschaft und Technik.

Ein Produkt dieses Labors ist das Christentum – ebenso wie Judentum und Islam eine orientalische Religion, das sich nie nur europäisch ausrichtete, sondern stets einen globalen Anspruch hatte. Alle drei großen monotheistischen Religionen bauten altorientalische Motive in origineller Manier neu zusammen. Und alle drei rangen um die Alleinstellung eines Gottes und dessen erhabenen Sitz im Himmel. Denn es war eine längere Entwicklung, bis die Gottheiten, die sich anfangs in Vegetations- und Erdmutterkulten beheimateten, in den Himmel aufgestiegen waren.

 

Vielleicht war der mittelalterliche Islam der aufgeklärteste und modernste.

 

Der Aufstieg Europas zu einem ansehnlichen Gebilde wiederum war von ständigen Rückschlägen begleitet. Nach dem Zusammenbruch des Weströmischen Reichs etwa gab es im Okzident einen katastrophalen Kulturbruch. Es waren die Eliten in Byzanz auf der einen und die Gelehrten des Islam auf der anderen Seite, die das reiche Erbe der antiken Welt in faszinierender Weise weiterentwickelten und dem entstehenden Europa in den Schoß legten. Die mit höchstem Lebensstandard ausgezeichneten Städte des Orients und der islamischen Welt waren jahrhundertelang ebenso Vorbilder für den Westen wie die dortigen Wissenschaftszentren und die Freiheit des Geistes. Vielleicht war – entgegen einem verbreiteten Narrativ – der mittelalterliche Islam der aufgeklärteste und modernste, und ihm verdankt Europa seine erste glänzende Stadtkultur im maurischen Spanien.

Dann, im 18. und 19. Jahrhundert, kenterte der Strom. Europa übernahm die Führung, baute die jahrhundertelange Flut von Kulturimporten aus dem Orient mit Originalität, kreativer Kraft und einem neuerdings offenen Geist nachhaltig um und formte daraus einen erfolgreichen Exportartikel für die gesamte Welt. Der kleinmütige Geist, der ein gemeinsames Europa allenfalls noch als Subventionsautomat und Kreditanstalt akzeptiert, sollte sich mit der identitätsstiftenden Kraft dieser Geschichte lustvoll verjagen lassen.

 

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Zu den Beteiligten

Bernhard Braun war Assistenzprofessor am Institut für Christliche Philosophie der Universität Innsbruck. Zurzeit lehrt er an den Universitäten Innsbruck und Salzburg Philosophiegeschichte, Kulturgeschichte und Kunstphilosophie.

 

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