wbg: William Hamilton (1730–1803) führte ein abenteuerliches Leben. Heute ist sein Name weitgehend vergessen. Warum lohnt es sich, den Klassiker neu zu entdecken?
Oliver Lubrich / Thomas Nehrlich: William Hamilton wurde in höchste Adelskreise geboren, war Spielkamerad des englischen Thronfolgers. Später führte er eine Skandalehe mit einem über 30 Jahre jüngeren Model, die in einer ménage à trois mit dem Seehelden Lord Nelson endete. Als britischer Botschafter in Neapel schuf Hamilton eine europaweit berühmte Sammlung an antiken Kunstschätzen, die er Schriftstellern wie Goethe und Malern wie Tischbein vorführte. Das sind die Glamour-Elemente seiner Vita. Daneben hatte Hamilton in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Gelegenheit, zahlreiche enorme Ausbrüche der süditalienischen Vulkane zu beobachten, vor allem des Vesuv und des Ätna, und er beschrieb sie in einer packenden Prosa. Seine Reportagen führen uns eindringlich die Gewalt der Natur vor Augen – und die Neugier des Forschers.
wbg: Sie nennen William Hamilton in ihrem Buch »den besten Vulkanologen seiner Epoche«. Worin liegt seine Bedeutung als Forscher?
Oliver Lubrich / Thomas Nehrlich: Hamilton erkannte den vulkanischen Ursprung einer ganzen Region. Er verstand, dass ihre Schönheit und Fruchtbarkeit auf die zerstörerische Kraft der Auswürfe von Gestein, Lava und Asche zurückzuführen waren. Mit seinen genauen empirischen Beobachtungen schuf er eine Grundlage für die moderne, naturwissenschaftliche Geologie. Aber er beschäftigte sich auch mit griechischen und römischen Kulturgütern, wie sie aus dem verschütteten Pompeji ausgegraben wurden. Durch seine Sammlungen und Kataloge trug er zu einer Wiederentdeckung und Popularisierung der Antike bei. Seine Frau Emma, die legendäre Lady Hamilton, setzte die Figuren der Vasen und Reliefs in erotischen Darbietungen in Szene.
»Hamiltons Reportagen führen uns eindringlich die Gewalt der Natur vor Augen – und die Neugier des Forschers.«
wbg: Die Naturreportagen werden von prächtigen Abbildungen begleitet. Wer hat sie geschaffen, und wie sind sie entstanden?
Oliver Lubrich / Thomas Nehrlich: Hamilton ließ sein Werk über die Vulkane von Pietro Fabris illustrieren, einem englisch-italienischen Künstler. Er instruierte ihn in der freien Natur. Seine Darstellungen sollten ästhetisch ansprechend und wissenschaftlich genau sein. Die prächtigen Bildtafeln des Bandes Campi Phlegraei, “Brennende Felder”, zeigen die herrlichen Landschaften um Neapel, aber auch Vulkane in dramatischen Ausbrüchen und die faszinierten Reaktionen der Menschen.
wbg: Worin besteht die politische Dimension von Hamiltons Vulkantexten?
Oliver Lubrich / Thomas Nehrlich: Hamilton selbst war Konservativer und Monarchist. Seine Berichte aus Neapel entstanden unter undemokratischen Bedingungen. Sie deuten mitunter die inkompetente Regierung des sizilischen Königs an, der sich mehr aus Jagd und Spektakel machte als aus der Politik. Während Hamiltons Zeit wurde Süditalien von der französischen Revolution erschüttert, es kam zu sozialen Unruhen, die mit Hilfe der Briten militärisch und gewaltsam niedergeschlagen wurden. Diese Situation wird im Bild des Vulkanausbruchs veranschaulicht, das viele Revolutionäre in ganz Europa als politische Metapher verwendeten. Auch bei späteren bedeutenden Geologen wie dem liberalen Alexander von Humboldt lässt sich die gesellschaftliche Bedeutung der Vulkane nachvollziehen – bis in unsere Gegenwart, wo sie ein Symbol für die Unbeherrschbarkeit der Natur und für den Umgang der Menschen mit Umweltkatastrophen geworden sind.
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Zu den Beteiligten
Oliver Lubrich ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik an der Universität Bern. Er leitete das Projekt einer Gesamtausgabe von Alexander von Humboldts Sämtlichen Schriften (2013 — 2019).
Thomas Nehrlich studierte Literaturwissenschaft in Berlin und Paris. Er ist PostDoc an der Universität Bern, wo er mit einer Arbeit zu Alexander von Humboldt promoviert wurde.