Übergriffe auf jüdische Bürger haben in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen. Die meisten davon gelangen nicht an die Öffentlichkeit. Dabei hat sich der Umgang mit Juden und Jüdinnen insgesamt enthemmt. Im Internet ohnehin, wo sich die Feindseligkeit in einem erschreckenden Ausmaß ungefiltert entlädt. Doch sobald sich jemand als jüdisch outet, vergessen Nichtjuden auch im realen Leben schon mal ihre gute Kinderstube. Kaum etwas bleibt unkommentiert, wenn man als Jüdin oder Jude agiert. Nicht selten sind die Bemerkungen abwertend, oft sind sie antisemitisch. Mit beiläufig hingeworfenen Beleidigungen oder plötzlichen Beschimpfungen müssen sich jüdische Männer, Frauen und Kinder alltäglich auseinandersetzen. In der U-Bahn, auf der Straße, an der Schule und an der Universität.
Meist sind die Äußerungen nicht nur verletzend und beleidigend, sondern von erschreckender Ahnungslosigkeit und Vorurteilen gegenüber der jüdischen Religion getragen. Nichtjuden wissen wenig bis nichts vom Judentum und der jüdischen Kultur. So ist ihre Haltung Jüdinnen und Juden – und damit oft auch dem Nahostkonflikt – gegenüber häufig ausschließlich von einseitigen Bildern beeinflusst: Von Vorstellungen, die sich in ihren Köpfen angesammelt haben. Diese Stereotype sind Jahrtausende alt und lassen sich erst konterkarieren, wenn man sich ihrer bewusst wird.
»Nichtjuden wissen wenig bis nichts vom Judentum und der jüdischen Kultur.«
Schon deshalb ist es wichtig, das Denken und die Strukturen, die den Antisemitismus von der Antike bis heute angetrieben haben, zu verstehen. Denn solange ein großer Teil der Gesellschaft Judenhass in all seinen Formen nicht erkennt, kann er weiterhin von verschiedener Seite für eigene Interessen eingesetzt werden. Von Rechten zum Beispiel, die gern die Schutzmacht für ihre »jüdischen Mitbürger« spielen, weil sie dann alle Muslime bashen können, wenn sie auf deren Antisemitismus hinweisen, während sie den Judenhass von rechts oder aus der Mitte verschweigen. Oder von Linken, die andersrum den Judenhass auf der muslimischen Seite ignorieren, weil es ihre Narrative von Täter und Opfer durcheinanderbringt.
Der jüdischen Gemeinschaft nutzen solche Diskussionen wenig. Oft werden Jüdinnen und Juden lediglich als Referenzen genutzt und stehen mittendrin in diesem Kampf zwischen politischen Lagern und Interessen. Viele wollen nicht auffallen. Sie schweigen, wenn sie an der Schule nur gemobbt und nicht geschlagen werden, wischen sich die Spucke aus dem Gesicht, wenn sie ihren Davidstern nicht früh genug unter den Pullover geschoben haben, empfangen ihre Gemeindezeitung in einem Umschlag, damit niemand sieht, dass da was Jüdisches ins Haus kommt, und denken daran, sich die Baseballmütze über die Kippa zu schieben.
»Solange ein großer Teil der Gesellschaft Judenhass nicht erkennt, kann er von Rechten wie Linken instrumentalisiert werden.«
Das ist ein unhaltbarer Zustand. Und es ist ein direkter Angriff auf die jüdische Identität. Wenn jüdische Kinder ihre Mitschüler:innen nicht mehr zur Bat oder Bar Mitzwa einladen wollen, weil sie dann ihr Jüdisch-Sein offenbaren müssten, oder wenn Berufstätige ihr Judentum vor den Kollegen verbergen, sagt das mehr über den Zustand dieser Republik aus als trockene Zahlen. Wenn es der Mehrheitsgesellschaft ernst ist mit ihrer Freude über »das neue jüdische Leben« in Deutschland, sollte sie alles daransetzen, diesen Zustand zu verändern. Sich über Leben und Ethik von Juden und Jüdinnen zu informieren, könnte ein erster Schritt sein.
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Zu den Beteiligten
Gunda Trepp hat nach Jurastudium und Ausbildung an der Henri-Nannen-Journalistenschule als Anwältin und als Journalistin für Zeitungen wie den Spiegel, die FAZ und die Berliner Zeitung gearbeitet. Sie lebt heute als Autorin in San Francisco und Berlin.