Ein Auszug aus Günter Müchlers »Beste Feinde – Geschichte einer leidenschaftlichen Nachbarschaft«.
»In der Zeit der Glaubensspaltung fällt die Rolle der Anderen den ›Welschen‹ zu. Welsch sind die, die romanische Sprachen sprechen, also Franzosen, Spanier und Italiener. Welsch sind Papst und Papsttum, welsch ist Rom und somit also alles, wogegen die Reformatoren Sturm laufen. Als sittenlos werden bald auch die welschen Franzosen abgestempelt. Man findet die Tätowierung in Flugschriften des Dreißigjährigen Krieges, und es ist gewiss kein Zufall, dass Grimmelshausens Simplicius bei seinem Aufenthalt in Paris in den Venusberg entführt wird, wo er sogleich mehreren Damen zu Diensten sein muss. Zur selben Zeit entsteht in Deutschland der erste Entwurf nationaler Selbstidentifikation. Weil die Gegenwart – der Dreißigjährige Krieg – aus deutscher Sicht ein Trauerspiel ist, sucht man Trost und Zuversicht in einer imaginierten Vergangenheit. Der wiedergefundene Germanen-Text des Tacitus kommt gerade recht. Hat der Römer nicht gelehrt, die Germanen seien ein Urvolk?
Die Humanisten destillieren aus Tacitus‘ Werk die ›deutsche Einfalt‹ als Ausdruck urgermanischer Tugendhaftigkeit. Die Deutschen, wird damit suggeriert, seien wohl nicht so schlagfertig, raffiniert und elegant wie die Franzosen, dafür aber redlich, treu und unschuldig. Das Klischee wirkt nachhaltig. Über Jahrhunderte bleibt die Inanspruchnahme biederer Günter Müchler ist passionierter Frankreichkenner und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Französischen Revolution und Napoleon. Er studierte Geschichte und Politikwissenschaft und war lange Zeit Programmdirektor von Deutschlandfunk, Deutschlandradio Kultur und Charaktereigenschaften, hergeleitet aus dem fantastischen Germanenbild eines antiken Schriftstellers, eine erstrangige Piste deutscher Ich-Suche.
An Frankreich scheiden sich die Geister, es ist Vor- und Schreckbild. Man möchte sein wie die Franzosen oder wie ihr Gegenteil.
Bei dieser Suche zeigt die Passnadel beständig nach Westen. An Frankreich scheiden sich die Geister. Es ist Vor- und Schreckbild. Man möchte sein wie die Franzosen oder wie ihr Gegenteil. Die ›Einfalt‹, die die Deutschen für sich in Anspruch nehmen – Varnhagen von Ense spricht später von der ›ungekünstelten Natur gesunder Volkstümlichkeit‹–, hat einen stark moralischen Strich. Sie korrespondiert mit der Verderbtheit und Geziertheit, die den Franzosen nachgesagt wird.
Was man sich nicht alles über Versailles erzählt! Es muss das reinste Sündenbabel sein! Vor allem im protestantischen Norden Deutschlands schüttelt man sich. Und doch: Die Sünde hat auch ihren Reiz. Französische Lebenskunst – bedeutet sie nicht die Freiheit, sich alle Freiheiten zu nehmen? Auf viele deutsche Fürsten, auch auf den Kleinadel und das aufstrebende Bürgertum, wirkt die Verlockung unwiderstehlich. Man benimmt sich französisch, parliert in einer spottlustigen Weise, die man für Esprit ausgibt, und folgt in der Mode der Raffinesse des Rokoko, die ironischerweise von niemandem authentischer repräsentiert wird als von der Königin Marie-Antoinette, der ehemaligen österreichischen Erzherzogin.
Es ist also nicht so weit her mit der ›deutschen Einfalt‹. Amüsiert bemerkt Madame de Staël, die Deutschland anfangs des 19. Jahrhunderts bereist und von der noch die Rede sein wird, den Ehrgeiz der Nachbarn, die Franzosen im Leichtsinn noch zu übertreffen: Sie ›affektier(t) en mehr Immoralität und sind frivoler als diese – nur aus Furcht, dem Ernst könne die Grazie fehlen, und Gefühle und Gedanken würden nicht den richtigen Pariser Ton haben‹.«
Zu den Beteiligten
Günter Müchler ist passionierter Frankreichkenner und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Französischen Revolution und Napoleon. Er studierte Geschichte und Politikwissenschaft und war lange Zeit Programmdirektor von Deutschlandfunk, Deutschlandradio Kultur und DRadio Wissen.