»Tehran Children« - so nannte man die jüdischen Kinder, die aus dem von den Nazis besetzten Polen über Russland, Usbekistan und Khasachstan in den Iran flohen und schließlich das von Großbritannien kontrollierte Palästina erreichten; eine Gruppe, zu der auch Mikhal Dekels Vater gehörte. Im Interview mit Daniel Zimmermann spricht die Professorin für Englische und Vergleichende Literaturwissenschaft über ein bislang kaum beleuchtetes Kapitel des Holocausts.
Daniel Zimmermann: Liebe Frau Professorin Dekel, »Tehran Children« scheint in den USA ein feststehender Begriff zu sein. In Deutschland ist diese Bezeichnung fast vollkommen unbekannt. Wer waren die Teheran-Kinder?
Mikhal Dekel: Eigentlich ist »Tehran Children« in den USA überhaupt kein feststehender Begriff. Jeden Tag bekomme ich Post von Menschen, die glauben, alles über den Holocaust gelesen zu haben, von dieser Geschichte aber nichts wussten. Die Teheran-Kinder tauchen bei keinen Gedenkveranstaltungen auf und wurden bisher kaum erforscht.
Die Teheran-Kinder waren eine Gruppe von fast 900 polnisch-jüdischen Kinderflüchtlingen, die während des Zweiten Weltkriegs in den Iran und später in das britisch kontrollierte Palästina evakuiert wurden und dort aufwuchsen. Sie waren ein kleiner Bruchteil einer viel größeren Gruppe von in Polen geborenen Juden, die die Vernichtung durch die Nazis in den Weiten Russlands, in Zentralasien, im Iran, in Indien, im Libanon und auch in Ostafrika überlebten. In meinem Buch erzähle ich nicht nur die Geschichte meines Vaters und der Teheran-Kinder, zu denen er gehörte, sondern auch dieser Viertelmillion. Es ist absolut erstaunlich, dass die Geschichte so vieler Überlebender weitgehend unerforscht ist.
Daniel Zimmermann: Sie wurden in Haifa geboren, als Israelin und Tochter eines israelischen Luftwaffenoffiziers. Bis zum Tod Ihres Vaters wussten Sie nur, dass er in Polen als Hannan Teitel geboren wurde. Wann begann Ihnen klar zu werden, welche Odyssee Ihr Vater als kleines Kind mitgemacht hatte?
Mikhal Dekel: Als ich in Israel aufwuchs, wusste ich, dass mein Vater in Polen geboren worden war. Aber Polen hätte für mich auch der Mond bedeuten können, und das vor-israelische Leben meines Vaters war wie ein alter Mythos. Ich wusste nur, dass er aus dem Iran in das Land Israel gebracht wurde, aber nicht, was vor dieser Etappe der Flucht geschah. Bis dahin betrachtete ich meinen Vater als Glückspilz, da er kein »echter Überlebender« war. Das Grauen seines Martyriums wurden mir erst bewusst, als ich begann, es bis ins kleinste Detail zu recherchieren.
Daniel Zimmermann: Die Recherche war für Sie mit vielen Reisen verbunden. Wo haben Sie nach Spuren dieser Geschichte gesucht?
Mikhal Dekel: Ich reiste nach Polen, nach Sibirien, Usbekistan und Israel. Ein Kollege reiste in den Iran. In diesen Ländern besuchte ich die Orte, an denen mein Vater gewesen war, interviewte Einheimische und rekonstruierte Szenen seiner Reise. Ich sprach auch mit Überlebenden Teheran-Kindern. Ich besuchte auch viele Archive in diesen Ländern sowie in England und den USA. Jedes Archiv erzählte die Geschichte aus einem anderen nationalen Blickwinkel. Ich las diese unterschiedlichen Darstellungen zusammen und wieder gegeneinander, um die Teile des Puzzles zusammenzusetzen.
Daniel Zimmermann: In der Geschichte des kleinen Jungen Hannan steckt fast das ganze Drama des 20. Jahrhunderts. Was haben Sie aus der Geschichte Ihres Vaters gelernt?
Mikhal Dekel: Dies ist eine globale Geschichte des Holocaust, eine ganz andere Geschichte, als wir es gewohnt sind zu hören. Ein Grund, warum es so viel Mühe kostete, diese globalen Zusammenhänge aufzudecken, ist, dass Geschichte heute von Nationalstaaten erzählt wird. Mein Buch ist somit auch der Versuch, eine neue Art der Memoir an den Zweiten Weltkrieg zu schreiben. Ich wollte in diese Geschichte die Kräfte mit einbeziehen, die das Schicksal meines Vaters geprägt haben.
Ich habe gelernt, dass in einer Flüchtlingskrise Diplomatie, Pragmatismus und gemeinsame Interessen einen weiten Weg zurücklegen, um selbst verfeindete Parteien zur Zusammenarbeit zu bewegen. Ich erfuhr von der Nächstenliebe – dem Einfallsreichtum der jüdischen Hilfsorganisationen – aber auch von der Nächstenliebe der einfachen Leute, von der Beharrlichkeit der Menschen und insbesondere der Kinder. Und ich erfuhr, wer mein Vater war. Es dauerte ein Jahrzehnt, aber ich bekam eine historische Antwort auf diese psychologische Frage.
Zum Schwerpunkt »Vernetzungen«
Zu den Beteiligten
Mikhal Dekel ist Professorin für Englische und Vergleichende Literaturwissenschaft am City College und am Graduate Center der City University of New York. Sie wurde in Haifa geboren, absolvierte ihren obligatorischen siebenjährigen Militärdienst, bevor sie nach New York auswanderte und Literaturwissenschaften studierte.
Daniel Zimmermann lebt in Mainz und ist Programmmanager im wbg-Lektorat Geschichte. Dort ist er zuständig für die Programme wbg Theiss, wbg Edition, wbg Academic und wbg Zabern.