Wie wir Geschichte erleben. Ein Interview mit Historicus*

Menschen erleben Geschichte oft in anderer Weise, als sich Fachwissenschaft und Schulpädagogik das vorstellen. Dabei nutzen sie „Geschichte“ als Ressource für ihre Beziehung zur Welt.

Anhand der Gestalt des „Historicus*“ beleuchtet Friedemann Scriba solches Erleben – in der Spannung zwischen Wissenschaft, moralischen Prinzipien und Bindung an die eigene soziale Lebenswelt.

Die Persona „Historicus*“ hat sich für die wbg sogar einem Interview gestellt.

wbg: Wir kennen Sie gar nicht. Warum gibt es Sie ausgerechnet in einem wissenschaftlichen Buch?

Historicus*: Gerne stelle ich mich vor. Dank meines ausgeprägten Geschichtsbewusstseins kann ich auch einiges über mich sagen. Friedemann Scriba, der Autor dieses Buches und mein Namensgeber, merkte, dass er in seinen Ausführungen an die Grenzen argumentierender und erzählender Darstellungsweise kommen würde. Also überlegte er, wie er ein anspruchsvolles Thema für die Leserinnen und Leser fassbarer machen könnte. Und da kam ihm die Psychologie von Produktentwicklung und Unternehmenskommunikation, vulgo Werbung, zur Hilfe mit ihrer Praxis: ‚Erschaffe eine möglichst konkrete Person, für die du dein Produkt oder deine Werbestrategie entwickeln willst: eine Persona!‘ Im Prinzip bin ich eine solche Persona – mit dem feinen Unterschied, dass Scriba mich aus seinen wissenschaftlichen Aussagen zusammengefügt hat. In mir ist also verdichtet, was Menschen fühlen, denken und tun, wenn sie sich von Geschichte berührt fühlen.

wbg: Scriba schreibt also lediglich eine Charakteristik wie früher im Deutsch-Aufsatz? Wozu dies unter einem wissenschaftlichen Label, das sich anspruchsvoll „Academic“ nennt?

Historicus*: Keine Sorge. Ich bin ein Produkt seriöser geisteswissenschaftlicher Arbeit, hermeneutisch absolut sauber. Scriba will breiter erfassen, warum und wie sich Menschen von Geschichte affiziert fühlen. Denn er denkt, dass zu oft Geschichtsunterricht und Geschichtskultur an Menschen und ihren Bedürfnissen und Befindlichkeiten vorbeigedacht werden – meist zu akademisch beschränkt. Und dass deswegen geschichtskulturelle Bemühungen oft am Publikum und dessen Befindlichkeiten vorbeigehen. Letztere müssten sprachlich adäquat erfasst werden. Wer weiß denn so genau, welche Motive und Befindlichkeiten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oder die Mitglieder von Lehrplankommissionen antreiben? 

 wbg: Schreibt Scriba demnach aus einer antiwissenschaftlichen Perspektive? Sollten wir das Buch wohl doch aus unserem Programm nehmen?

Historicus*: Ganz im Gegenteil. Auch Wissenschaft verträgt Selbstaufklärung – und daran arbeitet Scriba gewissenhaft und argumentationssicher. Er versucht, um es in Worten Gadamers zu formulieren, zur Sprache zu bringen, was mit Menschen passiert, wenn sie sich von Geschichte, also von Vergangenem, affizieren lassen – positiv wie negativ. Dazu verwendet er Sprachspiele verschiedener Autoren, z. B. die „Resonanz“ im Sinne Hartmut Rosas, wo Affiziertsein von Geschichte als eine Form ressourcenhaltiger Weltbeziehung beschrieben wird. Mit Merleau-Ponty beschreibt er, wie leiblich ich Geschichte erlebe, wenn ich etwa in Paris auf der Place de la Concorde stehe und deren vielfache historische Schichten als bedeutsam wahrnehme. Und mit Habermas und Charles Taylor zeigt er, dass ich ein Produkt europäischer Säkularisierungsprozesse bin – und bezüglich der möglichen Verhältnisse des Menschen zur Zeit wohl auch recht speziell …

wbg: Vielen Dank. Eines möchten wir noch wissen: Sind Sie eine amoralische Persona, ohne Sinn für Gut und Böse? Historiker, so haben wir im Studium gelernt, müssen doch distanziert, begriffsscharf und methodenbewusst sein, oder nicht?

Historicus*: Ich bin moralischer, als Sie denken. Mehr als in der geschichtstheoretischen und geschichtsdidaktischen Diskussion üblich, hat sich Scriba von dem Gedanken Emanuel Levinas’ beeinflussen lassen: Das Antlitz des Anderen ist eine Vorladung, unmittelbar ethisch zu handeln. Als solches Antlitz erkenne ich beispielsweise die Opfer, etwa der NS-Zeit, die mich auffordern, in Kenntnis von Geschichte ihrer nicht nur zu gedenken, sondern im Sinne eines „Nie wieder“ zu handeln. Eigentlich fühle ich mich, als ob ich auf einem Trampolin still stehen sollte; Sie wissen, das geht nicht. Denn im Trampolin ist immer eine Spannung, die mich in Bewegung hält. Für mich kommt diese Spannung aus drei Richtungen: den seit ca. 250 Jahren etablierten Normen der Geschichtswissenschaft, den ethischen Erwartungen in meinem Nahbereich (etwa Familienloyalität) und den allgemeinen moralischen Prinzipien der Menschheit (etwa fassbar in Menschenrechtskatalogen). In dieser Unruhe bin ich Historicus* und suche Beheimatung im Bewusstsein meiner Zeitschaft.

Wir von der wbg haben uns noch länger mit Historicus* unterhalten und fassen kurz zusammen:

„Geschichte“ kann Resonanz im Verhältnis von Menschen zur Welt steigern, durch ihren speziellen Umgang mit Zeit. Sie stellt also eine Ressource dar.

Diese These begründet Friedemann Scriba, indem er mit Sprachspielen unterschiedlicher Provenienz beschreibt, was Menschen in ihrem unausweichlichen „Umfangensein von Geschichte“ erleben können – über das methodische Vorgehen von Fachwissenschaft und die Umsetzung von didaktisch begründeten Kompetenzen hinaus.

In den Hauptteilen beleuchtet das Buch

- Geschichte als Resonanz

- Geschichte als Verstehen sowie

- Geschichte als Begegnung

 

Über das Buch

Was machen wir mit Geschichte? Was macht Geschichte mit uns? Menschen erleben Geschichte oft in anderer Weise, als sich Fachwissenschaft und Schulpädagogik das vorstellen. Dabei nutzen sie Geschichte als Ressource für ihre Beziehung zur Welt. Friedemann Scriba beleuchtet Geschichte als Resonanz im Anschluss besonders an Hartmut Rosa, Geschichte als Verstehen im Anschluss an Hans-Georg Gadamer (kritische Neulektüre von Hermeneutik) sowie Geschichte als Begegnung im Anschluss an Emanuel Levinas und Avishai Margalit (moralische und ethische Implikationen). Aus der Perspektive der konstruierten Persona Historicus*, die den historisch agierenden Menschen symbolisiert, beschreibt Scriba, mit welchen Geschichtsakten Menschen ihre „Zeitschaft“ leben.

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Zum Autor

Dr. Friedemann Scriba, *1960, war nach seiner Promotion Geschichtslehrer und ist nun Lehrkraft für Fachdidaktik Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Darüber hinaus ist er ausgebildeter Personal Coach und Interkultureller Trainer.

 

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