Willkommen in der Welt um 1500!

Ein Gespräch zwischen wbg-Lektor Daniel Zimmermann und Autor Romedio Schmitz-Esser über Dürer, Europa und die Zeit zwischen Mittelalter und beginnender Neuzeit

 

Daniel Zimmermann.: Lieber Herr Schmitz-Esser, Sie sind Historiker, Albrecht Dürer ist ein Fall für die Kunsthistorikerinnen und -historiker. Wann ist Ihnen Dürer zum ersten Mal als interessantes Thema für die Geschichtsschreibung aufgefallen?

Romedio Schmitz-Esser: Die Idee, mit Dürer durch seine Zeit zu gehen, ist mir in meiner Zeit als Direktor des Deutschen Studienzentrums in Venedig gekommen. Die besondere Kombination, Kunst und Geisteswissenschaften zusammenzubringen, prägte meine Arbeitszeit dort ganz grundlegend – und ich glaube, das ist ein ganz wichtiger, kreativer Weg, um neu über Geschichte nachzudenken. Ein Künstler wie Dürer nahm seine Zeit aufmerksam wahr, musste mit Rücksicht auf die Käufer seiner Drucke und Auftraggeber seiner Altarwerke oder Portraits immer am Puls der Zeit sein. Zugleich transformierte er diese Gedanken, indem er sie ins Bild setzte. Venedig war eine der zentralen Stationen, die er dabei besuchte – es lag nahe, sich mit seiner Person der Zeit um 1500 zu nähern.

Das Leben in Dürers Heimatstadt Nürnberg lässt sich zudem aufgrund der Überlieferungslage der Quellen besonders gut greifen – das macht ihn und seine Zeit so nahbar für uns. Zugleich werden dabei auch die deutlichen Unterschiede greifbar, die uns von den Europäern vor fünfhundert Jahren grundsätzlich trennen. Und das ist dann auch ein historisches Thema, das oftmals hinter der rein kunsthistorischen Beschäftigung mit Dürer und seinem Werk zurücktritt. Das Buch bietet demgegenüber einen kulturhistorischen Rundgang durch Dürers Zeit an. Man lernt seine Welt, seine Freunde, seine Freuden wie auch seine Leiden kennen.

 

Das Deutsche Studienzentrum in Venedig im Palazzo Barbarigo della Terrazza am Canale Grande

 

D.Z.: Dürer war Maler und Mathematiker, Kupferstecher, Ingenieur und auch Vielreisender. Können Sie ein kurzes Itinerar der Orte skizzieren, die er besucht hatte?

R. SCHMITZ-ESSER: Schon als junger Mann reiste er an den Oberrhein, wohl um Martin Schongauer zu treffen, der aber kurz zuvor verstorben war. Die Reise war aber dennoch für ihn wichtig, etwa die Freundschaft mit dem Drucker Johannes Amerbach in Basel entstand bei dieser Gelegenheit. Für die zwischenzeitlich ausgehandelte Hochzeit vom Vater zurückberufen nach Nürnberg, reiste er zudem nach Süden, wo er zumindest bis Tirol kam und mehrere Aquarelle der alpinen Landschaft anfertigte.

 

Dürer: Trient von Norden

 

Besonders prägend war aber seine Reise nach Venedig, die ihn mit der Kunst – und vor allem auch der Welt – in der Lagune in Kontakt brachte. Hier, im Venedig an der Wende zum 16. Jahrhundert, kamen Einflüsse aus dem ganzen Mittelmeerraum zusammen. Für einen Künstler war das eine nachhaltige Inspiration, etwa mit den Gebrüdern Bellini kam er in regen Austausch. Die Wertschätzung für ihn als Ausnahmekünstler genoss er sehr. Im Druck, in der Motivik, aber auch in der Materialität lassen seine Briefe mit seinem Freund Willibald Pirckheimer erahnen, was dies für eine kosmopolitische und moderne Stadt gewesen ist: Farbpigmente wie das gefragte und teure Ultramarin, das man aus Zentralasien importierte, oder Edelsteine, die am Rialto zu haben waren, aber auch Papier und Bücher, für die Venedig ein Zentrum war, begegneten ihm hier in Hülle und Fülle.

Besonders gut dokumentiert ist dann für seine späten Lebensjahre auch die Reise in die Niederlande, da sich hier ein Tagebuch erhalten hat, das seine Schritte vor Ort nachvollziehbar macht. Insbesondere in Amsterdam fand Dürer eine äußerst freundliche Aufnahme, und auch hier öffnete sich die Welt: An der Schelde trafen die fremdartigen Produkte aus dem noch jungen portugiesischen Kolonialreich in Indien ein und den Schatz, den Cortez brutal von den Azteken erpresst hatte, sah Dürer im Umfeld Karls V. Die Europäische Expansion wird damit greifbar und wir beobachten mit einem aus unserer Sicht vielleicht etwas naiven Dürer, wie eine neue Welt entsteht, die in die Neuzeit vorausweist.

Die Faszination liegt aber gerade darin, dass um 1500 ein mittelalterliches Verständnis auf neue Realitäten trifft, Aufbruch und Tradition liegen eng beieinander und noch ist für die Zeitgenossen nicht klar, wie sich die Zukunft gestalten wird. Diese Offenheit der historischen Situation möchte ich in dem Buch beschreiben. Dürers Reisen geben uns dazu die Möglichkeit, mit Nürnberg, Venedig und Amsterdam einige der zentralen Knotenpunkte der Zeit um 1500 zu besuchen und näher kennenzulernen.

D.Z.: Der Tagebuch- und Briefeschreiber Dürer stand auch mit vielen Zeitgenossen in Kontakt. Was sind einige wichtige Persönlichkeiten, die seinen Weg kreuzten?

R. SCHMITZ-ESSER: Beim Erstellen des Personenindex für den Band ist mir noch einmal aufgefallen, wie groß der Kreis an bedeutenden – und auch weniger bekannten – Persönlichkeiten ist, denen Dürer im Laufe seines Lebens begegnet. Die ausgezeichnete Quellenlage macht es für uns möglich, zumindest den Eindruck zu gewinnen, sein Umfeld auch persönlich kennenzulernen.

Die Humanisten in Nürnberg, vom Arzt Hartmann Schedel bis hin zum Ratskonsulenten Christoph Scheurl, der enge Freund Willibald Pirckheimer und die Patrizier der Stadt, mit ihnen allen stand Dürer in oft sehr enger Beziehung. Sein sozialer Blick richtete sich dabei stets nach oben. So notierte er genau, wo er am Reichstag in Augsburg Kaiser Maximilian hatte treffen und zeichnen dürfen. Erasmus von Rotterdam traf er in den Niederlanden, über die Entwicklungen der Reformation und Luthers Schriften, die er auch in größerer Zahl selbst besaß, war er jedenfalls gut informiert.

Sein Status als Celebrity macht es uns leicht, an seiner Hand ein Who is Who der Zeit um 1500 kennenzulernen. Oft sind das auch sehr intime Blicke, die den Charakter der Personen betreffen, die wir kennenlernen. Einen besonderen Fokus lege ich zudem auf die Frauen im Umfeld Dürers, ohne die seine Karriere und sein ökonomischer Erfolg nicht denkbar gewesen wären. Allen voran sind dabei seine Frau Agnes Dürer und seine Mutter Barbara zu nennen. Mit Caritas Pirckheimer begegnen wir auch einer hochgebildeten, standhaften Äbtissin, die sich gegen ihr männliches Umfeld entschieden und erfolgreich durchzusetzen wusste.

 

Dürers Portrait von Willibald Pirckheimer

 

D.Z.: Sie benutzen den unendlich wachen Zeitzeugen Dürer als Cicerone durch das Europa am Beginn der Neuzeit. Welche Aspekte dieser Epoche können Sie bspw. durch ihn sehr anschaulich machen?

R. SCHMITZ-ESSER: In den fünfzig Kapiteln versuche ich, möglichst breit in die Entwicklungen dieser dynamischen Epoche zu blicken. Dabei sind ganz grundsätzliche Themen zu finden, etwa der Zugang zur Geburt, zur Jugend, zum Alter oder zum Sterben werden entsprechend beleuchtet. Hier sind oft grundlegende Unterschiede in der Wahrnehmung zu finden; gleichzeitig wird das persönliche Mitleiden deutlich, das uns menschlich über die Zeiten verbindet, etwa wenn geliebte Menschen sterben. Die dramatischen Umwälzungen der Zeit sind ebenso Thema, etwa der Buchdruck, die Vorstellungen einer neuen Gelehrsamkeit und der durch sie eröffneten Möglichkeiten für einen sozialen Aufstieg, oder die völlig veränderte Wahrnehmung der Natur, die sich gerade bei Dürer bahnbricht. Auch den Begierden geht das Buch nach: Den lukullischen Genüssen, den Sinneseindrücken, der Sexualität dieser Zeit. Dürers Werk ist reich, um alle diese kulturellen Aspekte auszuleuchten.

Nicht immer gelingt es allerdings, Dürer als Zeugen für wichtige Entwicklungen zu gewinnen – unser Begleiter durch die Zeit um 1500 schaut nicht in jede Richtung, will uns gewissermaßen auch Teile seiner Lebenswelt nicht zeigen. Schmutz, Armut, Sklaverei, selbst das für die meisten Menschen der Zeit zentrale Dorfleben am Land, das alles hat ihn wenig interessiert. Es gehört zur Ehrlichkeit des Historikers, sich auch diesen Themen zu stellen und danach zu fragen, warum wir darüber vergleichsweise wenig erfahren, wenn wir das umfangreiche Oeuvre und die reichen Schriftquellen zu Dürer betrachten. Auch das ist eine Seite, die das Buch anspricht.

D.Z.: Vom Selbstbildnis als Dreizehnjähriger über die Darstellung der eigenen Krankheit bis zum Portrait seiner Mutter als Greisin deckt Dürer alle Lebensalter ab. Kann man sagen, dass man durch seine Person ein Leben um 1500 begreifen kann?

R. SCHMITZ-ESSER: Anders als viele Werke zu Dürer, die ihn – durchaus nicht unberechtigt – als Genie und Ausnahmekünstler feiern, ist diese Durchschnittlichkeit genau mein Ansatz in diesem Buch: Je länger ich mich mit Dürer beschäftigt habe, umso mehr bin ich davon überzeugt, dass er vor allem auch ein ganz normaler Nürnberger seiner Zeit gewesen ist. Diese Seite möchte ich hier vorstellen. Dabei entdeckt man einen Mann, der ein durchschnittliches Lebensalter erreichte, selbst um die Absicherung seines sozialen und ökonomischen Aufstiegs rang, um seine vergleichsweise einfache Herkunft wusste und den Ethos eines Handwerkers schätzte und pflegte.

Menschlich kommt er uns näher, etwa in seinen durchaus nicht grandiosen, sondern sehr hausbackenen Gedichten oder in den flüchtigen Strichmännchen, die er in persönlichen Briefen unterbrachte und die es mit Grund nicht in den Kanon der Kunstgeschichte geschafft haben. In dieser Perspektive führt er uns ein in seine Zeit – gerade weil er ein recht durchschnittlicher Stadtbewohner war. Ich glaube nicht, dass ihm das etwas von seiner Brillanz als Künstler raubt; es ergänzt dieses Bild aber um eine wichtige Note, nämlich ein vertieftes Verständnis seiner Zeit und eine Note menschlicher Wärme, soweit wir diese durch den Schleier der selektiv erhaltenen Quellen nach fünfhundert Jahren noch spüren können.

 

Selbstbildnis mit gelbem Fleck

 

D.Z.: Was ist für Sie das größte Faszinosum, das größte Geheimnis, dass Sie an Dürer entdeckt haben?

R. SCHMITZ-ESSER: Besonders bemerkenswert finde ich seine diplomatische Neutralität, die mir vor der Arbeit an diesem Buch noch nicht so klar aufgefallen war. Geschickt laviert er durch die großen Unsicherheiten, nie lässt er sich klar in die Karten blicken. Oft ist es schwer, zwischen Stilisierung und Anspruch, ökonomisch motivierter Werbung und künstlerischer Überhöhung der eigenen Person zu unterscheiden. Ein gutes Beispiel bietet seine Haltung zur Reformation, die um ihn herum die Stadt Nürnberg als eines der Zentren, in denen zentrale Persönlichkeiten wie Philipp Melanchthon oder Andreas Osiander wirkten, mit voller Wucht erfasste. Mit dem Umfeld Kurfürst Friedrichs des Weisen, der Luther schützte, war er unmittelbar verbunden, pflegte aber zugleich Beziehungen zum habsburgischen Hof oder Kardinal Albrecht von Brandenburg, also dezidierten Vertretern des alten Glaubens. Er selbst besaß eine lange Liste von Büchern Luthers – und kaufte sich doch weiterhin Rosenkränze für die persönliche Andacht, ganz im Zeichen der Religion, mit der er aufgewachsen war.

Als Historiker fasziniert es mich, dass ich an den inneren Menschen und sein Urteil über die Quellen nicht näher herankommen kann, obwohl er sich selbst so oft und so deutlich in Bild und Schrift geäußert hat. Seine ausgleichende Vorsicht sagt, glaube ich, aber auch viel über diese hierarchische Welt aus: Bei aller Dynamik und Veränderung blieb immer die Sorge, ob Kriege, Krankheiten oder soziale Entwicklungen die eigene Position bedrohen und Hoffnungen auf Aufstieg verhindern könnten. Fortschrittlich wollte diese Zeit sein, nach unseren Maßstäben war sie aber sehr weit entfernt von der Durchsetzung von Gleichheit, breiter politischer Partizipation oder sozialer Absicherung für alle Mitglieder der Gesellschaft. Auch das gehört zu dieser Geschichte dazu und macht die Zeit um 1500 nur umso schillernder.

D.Z.: Ich danke Ihnen, lieber Herr Schmitz-Esser, ganz herzlich für dieses Gespräch!

 

 

Über das Buch

Um 1500 – die Menschen in Europa stehen tief in der Tradition des Mittelalters. Zugleich bricht aber auch mit Macht ein neues Zeitalter an: Amerika wird erschlossen. Die Möglichkeit des Buchdrucks stellt die Welt auf den Kopf. Der Humanismus rückt den Menschen in den Mittelpunkt. Eine neue Kunst entsteht, die Renaissance. Und aus dem ewigen Wunsch nach einer Reform der katholischen Kirche resultiert die Spaltung in viele Konfessionen. Romedio Schmitz-Esser entfaltet das faszinierende Panorama Europas am Beginn der Neuzeit. Willkommen in der Zeit um 1500!

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Zu den Beteiligten

Dr. Romedio Schmitz-Esser bekam für seine Habilitation den Preis des Verbands der Historikerinnen und Historiker Deutschlands sowie den Preis „Geisteswissenschaften international“, war Professor für mittelalterliche Geschichte in Graz, Direktor der Deutschen Studienzentrums in Venedig und lehrt seit 2020 als Nachfolger von Bernd Schneidmüller mittelalterliche Geschichte in Heidelberg.

 

Daniel Zimmermann lebt in Mainz und ist Programmmanager im wbg-Lektorat Geschichte. Dort ist er zuständig für die Programme wbg Theiss, wbg Edition, wbg Academic und wbg Zabern.

 

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