Madelaine Böhme im Interview über neue Funde und die Evolution
Prof. Madelaine Böhme ist Geowissenschaftlerin und Paläontologin und Professorin für Terrestrische Paläoklimatologie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Sie ist Gründungsdirektorin des Senckenberg Center for Human Evolution and Paläoenvironment in Tübingen.
wbg: Frau Prof. Böhme, als Paläontologin beschäftigen Sie sich intensiv mit der Frage, wie der moderne Mensch entstand. Was war Ihr bedeutendster Fund?
Madelaine Böhme: Da brauche ich nicht lange nachzudenken. Wissenschaftlich am bedeutendsten sind sicherlich die vier Teilskelette des 11,6 Millionen Jahre alten Menschenaffen Danuvius guggenmosi aus dem Allgäu. Diese bislang unbekannte Art vereinigt anatomische Merkmale von Menschenaffen und Menschen – sie ist ein missing link der menschlichen Evolution. Danuvius war ein Zweibeiner und trotzdem baumbewohnend. Er ist doppelt so alt wie die bislang ältesten zweibeinigen Vormenschen und er lebte in Europa. Diese Tatsachen lassen die Anfänge der menschlichen Evolution in einem neuen Licht erscheinen. Sie rütteln am Paradigma einer ausschließlich afrikanischen Evolution von Menschen in Savannen, die sich dort erst vor zwei Millionen Jahren ausbreiteten.
»Die geradlinige und simple Vorstellung eines Out-of-Africa unserer Vorfahren gegen Ende des Eiszeitalters vor 100.000 Jahren ist nun nicht mehr gültig.«
wbg: In den letzten Jahren ist die Paläontologie in Bewegung geraten. Wie hat sich unser Verständnis der menschlichen Evolution verändert?
Madelaine Böhme: Neue Technologien erlauben uns einen tieferen Einblick in die Anatomie und die Verwandtschaftsbeziehungen unserer Vorfahren. Mittels Computertomographie können wir beispielsweise belegen, dass der 7 Millionen Jahre alte Graecopithecus aus Europa wahrscheinlich bereits ein Vormensch war. Auch konnten Wissenschaftler durch DNA-Analysen zeigen, dass die gemeinsame Wurzel moderner Menschen, Neandertaler und Denisova-Menschen in Europa mehr als 500.000 Jahre zurückliegt. Die geradlinige Vorstellung eines Out-of-Africa unserer Vorfahren gegen Ende des Eiszeitalters, wie sie noch vor 20 Jahren vorherrschte, ist nun nicht mehr gültig. Wir sehen vielmehr ein sehr weit zurückreichendes, zunächst unübersichtliches Netzwerk vieler Menschenarten, welche über Millionen von Jahren genetischen Austausch über drei Kontinente hinweg hatten.
wbg: Warum ist aus der Vielzahl an Hominiden-Arten der Homo Sapiens als einzige Art übrig geblieben?
Madelaine Böhme: Wir tragen in unterschiedlichen Maße genetisches Material vieler Menschenarten in uns. Die Paläogenetik fand heraus, dass bis zu sechs weitere Menschenarten Spuren in unserem Genom hinterlassen haben. Das Genom der Neandertaler findet sich zu etwa 30 % in heutigen Europäern, jenes der Denisova-Menschen zu etwa 80 % in heutigen Asiaten. Vom genetischen Standpunkt aus sind diese Arten also nicht ausgestorben, sondern sie leben in uns fort.
»Vom genetischen Standpunkt aus sind Neandertaler und Denisova-Mensch nicht ausgestorben, sondern sie leben in uns fort.«
wbg: Sie sind Professorin für Paläoklimatologie. Welche Bedeutung hatten Klimaereignisse für Entwicklung und Ausbreitung der Hominiden?
Madelaine Böhme: Das ist eine sehr interessante Frage, der schon Charles Darwin und zuvor Jean-Baptiste de Lamarck vor fast 200 Jahren nachgegangen sind. Die Menschen und ihre Vorfahren sind zunächst wie alle Organismen eingebettet in eine sich stets verändernde Umwelt. Im Gegensatz zu unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen, konnten sich Menschen den extremen Klimaveränderungen jedoch stets hervorragend anpassen. Homo sapiens und unsere ›Brüder und Schwestern‹ in uns, die Neandertaler und Denisova-Menschen, haben nahezu jede erdenkliche Klimazone bewohnt. Sie einte jedoch eines – eine Kultur mit entsprechender Technologie. Kultur, Technologie und Verstand (!) sind daher viel entscheidender für ein Leben von Menschen auf diesem Planeten, nicht das ohnehin sich verändernde Klima. Ganz nach dem Motto »Es gibt kein schlechtes Wetter – nur schlechte Kleidung«.