Alle Jahre wieder, weil Weihnachten immer so plötzlich kommt und weil man manchmal eben doch noch ein wenig Inspiration braucht: Denis Scheck, seines Zeichens Literaturkritiker, empfiehlt Ihnen Bücher, die ihn beeindruckt haben. Alles geprüfte und geschenktaugliche Weihnachtstipps.
Die Auswahl reicht von aktuellen Romanen, der geistvollen Hommage an eine legendäre Comic-Figur, einer Autobiographie der ethnografischen Forschung und einem karikaturistischen Rückblick auf 25 Jahre BRD bis hin zu einer opulenten Gourmet-Bibel, die keinen noch so ausgefallenen Geschmackswunsch offenlässt.
Aber Achtung: Vor einem Buch warnt Denis Scheck ausdrücklich. Pfoten weg!
Bernardine Evaristo: »Mädchen, Frau etc.«
In „Mädchen, Frau etc.“ feiert die Britin Bernardine Evaristo ein Hochamt politischer Korrektheit und erzählt am Beispiel der Schicksale eines Dutzends schwarzer Frauen von den dominierenden Ideologien unserer Gegenwart, also von Feminismus, Wokeness, Diversity, Identitätspolitik und dem Infragestellen der eigenen Privilegien. Eigentlich müßte dieser Roman unter so viel aufgebürdetem weltanschaulichen Ballast zusammenbrechen. Gerade das verhindert die größte Stärke der Erzählerin Bernardine Evaristo: ihr Humor. Und ihre Fähigkeit, all diese Ideologien in der Ambivalenz des kritischen Bewußtseins ihrer Figuren aufzuheben und in der Schwebe zu halten. Das macht diesen Ausnahmeroman zu einer Schule gegen Schwarzweißdenken.
Christian Kracht: »Eurotrash«
Das ist der berührendste, menschlich reifste Roman, den Christian Kracht bislang geschrieben hat. Und der lustigste. Ich jedenfalls habe Tränen gelacht, während ich atemlos die Reise einer Mutter mit künstlichem Darmausgang, einem Sohn mit einem schweren Familienkomplex und einer Plastiktüte mit sechshunderttausend Franken durch eine Geisterbahn namens Schweiz verfolgte. Seit Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt hat den Schweizern niemand mehr so schön und überzeugend die Leviten gelesen: „Wenn man in Zürich war, dachte man ja immer, es würde einen der Geist von Joyce und des Cabaret Voltaire umwehen, aber in Wirklichkeit war es lediglich eine Stadt der geldgierigen Oberleutnants und selbstherrlichen Strizzis.“ Und genau so messerscharf seziert Kracht auch die eigene deutsche Familiengeschichte. Eine literarische Offenbarung.
Marieke Lucas Rijneveld: »Mein kleines Prachttier«
So muß es sich angefühlt haben, Vladimir Nabkovos „Lolita“ bei Erscheinen gelesen zu haben. Marieke Lucas Rijneveld erzählt in „Mein kleines Prachttier“ von der alles verzehrenden Liebe eines 49jährigen Tierarztes zu einer 14jährigen Bauerstochter. Und natürlich fragt man sich als erstes, ob man hier wirklich von Liebe sprechen kann oder nicht von Mißbrauch und sexueller Obsession. Das wird jede Leserin, jeder Leser selbst entscheiden müssen. Angesiedelt ist dieser Roman im calvinistischen Bible Belt der Niederlande. Dieses lustfeindliche christliche Umfeld sorgt für reichlich Neurosen, und so wundert es denn nicht, daß Mann und Mädchen, die Rijneveld wie zwei Güterzüge auf einer eingleisigen Bahnlinie aufeinander zurasen läßt, schwer traumatisiert sind. Der Tierarzt wurde als Kind von seiner Mutter sexuell mißbraucht. Aber erklärt das wirklich die übergriffige Liebe dieses Mannes? Mehr als schräg ist aber auch die unglaublich anschaulich geschilderte Phantasiewelt des Mädchens, das sich einen Penis wünscht, sich in eines der Flugzeuge verwandelt, das bei den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 in die Twin Tower fliegt, und das Nacht für Nacht Sigmund Freud und Adolf Hitler auf ihrer Bettkante empfängt, um mit ihnen den Tag durchzusprechen. Klingt bizarr? Ist bizarr – und unwiderstehlich. Dies ist ein Roman, der unter die Haut geht. Der in schillernder Sprache davon erzählt, welche Sauerei Liebe in bürgerlichen Lebensläufen anrichten kann. Und es spielt eben keinerlei Rolle, ob dieses Buch eine junge Frau, ein alter Mann oder eine 30jährige Nonbinäre geschrieben hat: „Mein kleines Prachttier“ ist einfach große Kunst, und die darf bekanntlich alles – auch ohne moralische Wertung von sexuellem Mißbrauch erzählen.
Judith Hermann: »Daheim«
Judith Herrmanns „Daheim“ ist die stärkste Liebesgeschichte, die ich seit langem gelesen habe. Es beginnt mit einer jungen Frau, die in einer Zigarettenfabrik jobbt und ein Angebot von einem Bühnenmagier erhält, ihn als seine Assistentin bei der berühmten Nummer mit der „Zersägten Jungfrau“ auf eine mehrmonatige Reise an Bord eines Kreuzfahrtschiffes zu begleiten. Die Frau läßt sich das eine Woche durch den Kopf gehen und lehnt in letzter Sekunde ab. „Und einen Moment später dachte ich“, schreibt Judith Hermann, „ich wäre tatsächlich in zwei Hälften geteilt – nicht körperlich, eher im Kopf. Vielleicht im Herzen. Mein Herz wäre in zwei Hälften geteilt, ich war da, und ich war ganz woanders.“ Von solchen Momenten der Zerrissenheit erzählt dieser Roman. Nach diesem Auftakt springen wir 30 Jahre in die Zukunft. Die Frau war verheiratet, eine Tochter ist inzwischen erwachsen, und gerade hat sie sich von ihrem Mann getrennt und ist von Berlin raus ans Meer gezogen, wo ihr Bruder eine Kneipe betreibt. Dort fängt sie ausgerechnet eine Affäre mit einem Schweinebauern an. Können Sie sich etwas Unattraktiveres vorstellen als so einen Mann, der tausend Schweine zur Qualfleischerzeugung hält? Und doch schafft es Hermann, diese Liebesgeschichte auf absolut magische Weise zu entfalten: atmosphärisch dicht, spannend und doppelbödig. Judith Herrmann erzählt in ihrem Roman von verpaßten Möglichkeiten, von nicht beschrittenen Wegen. Vom Klimawandel und den Wüsteneien in unseren Herzen.
Heike Behrend: »Menschwerdung eines Affen«
Die Wissenschaftlerin Heike Behrend erzählt in ihrer »Autobiographie der ethnografischen Forschung« wie es ihr bei ihren Feldforschungen in den Tugendbergen im Nordwesten Kenias und in Uganda erging. Verspottet, ausgelacht und als »Affe«, »Närrin« oder »Clown«, »Hexe«, »Spionin«, »satanischer Geist« und »Kannibale« beschimpft, lernt die Ethnologin, sich mit dem Blick ihrer Studienobjekte zu sehen und kulturelle Differenz auszuhalten. Erstaunlich produktiv fällt dabei Behrends nuancenreicher Vergleich ihres eigenen Tuns mit dem des Affen Rotpeter aus Kafkas »Bericht für eine Akademie« aus. So heiter und anregend kann Wissensvermittlung sein.
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Ralf König: »Lucky Luke - Zarter Schmelz«
Wie geistreich eine Hommage im Medium Comic ausfallen kann, beweist diese Lucky-Luke-Version von Ralf König, seine Hommage an den genialen Comiczeichner Morris. Was Sie immer schon über die geschlechtlichen Vorlieben der Kuhtreiber im Wilden Westen und die Geheimnisse der Schweizer Schokolade wissen wollten: Ralf Königs Geschichte über den Mann, der schneller ziehen kann als sein eigener Schatten läßt keine Fragen offen.
Alexander Moritz Frey: »Solneman der Unsichtbare«
»Solneman der Unsichtbare« erzählt von einem mysteriösen Fremden, der eines Tages in einer deutschen Kleinstadt auftaucht. Der Mann kleidet sich exzentrisch, sein Auftreten und seine Ausdrucksweise sind ebenso skurril wie sein Name: Hciebel Solneman. Und ausgefallen ist auch der Vorschlag, den er den Stadtoberen unterbreitet: Solnemann möchte den Stadtpark kaufen und bietet dafür eine atemverschlagende Summe. Man wird sich handelseinig. Doch bald bereuen die braven Bürger den Verkauf. Solnemans eine Extravaganz, sein Verzicht, sich mit seinen Mitbürgern in irgendeiner Weise gemein zu machen, treiben sie bald zur Raserei. Verschwörungstheorien blühen. Und als sie auch noch merken, daß sein Name Hciebel Solneman ein Palindrom ist, das von hinten gelesen „Namenlos lebe ich“ lautet, kennt ihre Wut keine Grenzen mehr. Geschrieben wurde dieser taufrisch wirkende Text unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs von einem jungen Mann Anfang 30. Alexander Moritz Frey mokiert sich mit großer Spottlust über die Korruptheit der bürgerlichen Welt, aber auch über die Korruptheit des Gefühls und inszeniert in seinem Roman ein bitterböses Fest der literarischen Hochkomik.
Greser & Lenz: »Schlimm!«
Wahrlich, wir leben in finsteren Zeiten, wenn eine Zeitung wie die „New York Times“ sich selbst kastriert und ihre Karikaturen abschafft, um die zarten Seelchen ihrer Leserinnen und Leser nicht etwa durch deren religiöse oder politische Überzeugungen Zuwiderlaufendes zu verletzen. Seit über 25 Jahren bekommen hingegen in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ dank Achim Greser und Heribert Lenz alle, wirklich alle ihr Fett weg: Grüne, Katholiken und AFDler, Kleinbürger, Großkopferte, Schwule und Neoliberale, alte Nazis und junge Veganer, Sozialdemokraten und Schnitzelfresser. In diesem opulenten Sammelband zu blättern, heißt das Biotop Deutschland kennen- und lieben zu lernen.
Sasha Marianna Salzmann: »Im Menschen muss alles herrlich sein«
»Im Menschen muß alles herrlich sein« ist ein Satz von Anton Tschechow aus »Onkel Wanja«, der im Russischen zum geflügelten Wort wurde. Sinngemäß ist es ein Appell, sich nicht gehenzulassen, sondern etwas aus sich zu machen. Die vier Frauen, die im Mittelpunkt von Salzmanns zwischen 1970 und 2015 in der auseinanderbrechenden Sowjetunion und der wiedervereinigten Bundesrepublik spielenden neuem Roman stehen, müssen zahlreiche reale und imaginierte Grenzen überwinden, um sich dem Mahlstrom der Geschichte zu entziehen. »Im Politikressort gibt es kein Ich«, wird die jüngste Protagonistin, eine angehende Journalistin, in Berlin belehrt. Salzmann bringt dieses Ich literarisch eindrucksvoll in den politischen und historischen Raum zurück.
Francois-Régis Gaudry & Freunde: »Die Gourmet-Bibel Frankreich«
Selten hatte ich so viel Spaß bei der Lektüre eines Kochbuchs. Aber was heißt hier schon Kochbuch: dieses bis in die letzte Zeile vor kulinarischem Wissen, Produktkunde und Entdeckerfreude strotzende kulinarische Standardwerk liefert die DNA der französischen Küche. Egal, ob Sie hinter in das Geheimnis von Baba au Rhum kommen möchten, überrascht feststellen, daß das Baguette eine ziemlich neue französische Brotsorte ist oder in die Mysterien der Paris-Brest-Torte (Nougatcreme! Crumble! Brandteig!) eintauchen: dieses Buch ist ein Festessen.
»Die Gourmet-Bibel Frankreich« ansehen
EINE WARNUNG! Denis Scheck, Christina Schenk & Stubbs: »Der undogmatische Hund – eine Liebesgeschichte zwischen einer Frau, einem Mann und einem Jack Russell«
Freunde von Kater Murr, Nero Corleone oder Sneaky Pie Brown aufgepaßt: in diesem Buch sichtet ein Terrier die Weltliteratur von Virginia Woolf über Thomas Mann bis zu Paul Auster und nimmt auf kätzische Belange nicht die allergeringste Rücksicht. Empörend!
Zum Rezensenten
Literaturkritiker Denis Scheck bespricht einmal monatlich die »Spiegel«-Bestsellerliste, abwechselnd Belletristik und Sachbuch – parallel zu seiner ARD-Sendung »Druckfrisch«.
Liebesgeschichte
Ich habe das Buch von Judith Herrmann „Daheim“ gelesen.
Eine Liebesgeschichte, wie Herr Scheck sie bemerkt hat, konnte ich nicht feststellen.
Auch die weiteren Mitglieder in meinem Lesezirkel sahen keine Liebesgeschichte.
M.f.G.