Kürzlich wurden auf einer Versteigerung zwei Zeichnungen angeboten, die das Festbankett auf der Hochzeit von Prinzessin Viktoria Luise, der einzigen Tochter Kaiser Wilhelms II., mit Prinz Ernst August, Herzog von Braunschweig und Lüneburg, am 24. Mai 1913 skizzierten. Diese Hochzeit vor hundert Jahren, die eine jahrzehntelange Fehde zwischen den feindlichen Häusern der Welfen und der Hohenzollern beendete, war das letzte große Zusammentreffen europäischer Souveräne vor dem Ausbruch des Weltkriegs. Georg V. von Großbritannien und Queen Mary sowie der Zar Nikolaus II. und seine Gattin folgten der Einladung – ein hoffnungsvolles Signal, welches sich als trügerisch erwies. 15 Monate später bekriegten sich die gekrönten Häupter.
Der Maler, der das Ereignis skizziert hatte, war ein gebürtiger Wiener, Moritz Coschell (1872–1943). Er war um 1900 nach Berlin gekommen und hatte sich schnell als Gesellschaftsmaler etablieren können. Sein Ruf beim kaiserlichen Hofe wurde von der österreichischen Presse stolz vermeldet. Schon ein Jahr nach der legendären Hochzeit musste er einrücken: als Kriegsmaler in das österreichische Heer, wo er Zeuge des unfassbaren Gemetzels wurde, welches am Ende 18 Millionen Menschen das Leben kostete, die europäischen Hochkulturen zerstörte und neben Not, Hunger und Armut Rachegelüste zurückließ, die dann in eine noch größere Katastrophe mündeten.
Diese vorausgesehen hat der französische Korrespondent des „Figaro“, Charles Bonnefon (1871–1935), der 1907 eine üppige Ausgabe des „Figaro illustré“ über Berlin gestaltete, zu der Moritz Coschell die Bilder beisteuerte: Genreszenen, Typen, Straßenszenen, sowie großformatige Ölgemälde. Bonnefon, der zunächst Theologie und Philosophie studiert hatte, war im Kulturleben, der Kunst- und Bühnenszene Berlins gut vernetzt und berichtete regelmäßig sehr eloquent, aber auch süffisant in verschiedenen französischen Medien über Deutschland, seine Sitten und Gebräuche. Auch er verließ, aber als „feindlicher Ausländer“, Deutschland bei Kriegsausbruch und trat in die französische Armee ein, wo er flammende Reden gegen Deutschland hielt und diese mit den langjährigen Erfahrungen seines Lebens in Berlin und unter Deutschen untermauerte. Er kehrte nicht wieder nach Deutschland zurück, sondern legte seine Ansichten 1925 in einer Geschichte Deutschlands nieder, die bis zum deutschen Einmarsch in Paris 52 Auflagen erfuhr. Hier trennt er deutlich zwischen einem preußisch-protestantischen Militarismus und den gutmütigeren „Rheinländern“ und sieht hellsichtig voraus, dass sich nach dem Waffenstillstand und Versailles eine noch weit größere Katastrophe anbahnt. Diese zu erleben, blieb ihm erspart, er verstarb, schwer erkrankt, 1935 in Cannes.
Moritz Coschell, jüdischer Herkunft, der nach dem Krieg nach Berlin zurückkehrte, konnte an seine Erfolge nicht dauerhaft anknüpfen, er erhielt schließlich von den Nationalsozialisten Berufsverbot. Er kehrte zunächst nach Wien zurück, bis ihm mit dem Anschluss das Schicksal dorthin folgt, und verstirbt, der Deportation zwar entgangen, mittellos, einsam und krank in einem provisorischen Krankenhaus in Wien.
Die Nummer über Berlin im „Figaro illustré“ von 1907 war sehr begehrt, schnell vergriffen, aber auch, kurzlebig wie Illustrierte sind, schnell vergessen. Die treffenden Skizzen Coschells und die bissigen Beschreibungen Bonnefons zum Berliner Leben sind es wert, neu entdeckt zu werden. Vieles ist aktuell: so gilt die 1910 von dem Publizisten Karl Scheffler formulierte Einsicht, dass es das Schicksal Berlins sei, „immerfort zu werden und niemals zu sein“ heute immer noch. Da dieses Heft nie auf Deutsch erschienen ist, aber den deutschen Lesern keinesfalls vorenthalten werden sollte, hat sich der Autor daran gesetzt, in die Zeit einzuführen, die Texte zu übersetzen und gegenüberzustellen, zu kommentieren und mit den Biografien der Autoren zu versehen. Das Ergebnis dieser Arbeit, die zweisprachige Ausgabe „Figaro illustré: Berlin 1907“, ist nun bei der wbg erhältlich.
Über das Buch
Mit dem Sieg über Frankreich 1871 und der Neugründung des deutschen Kaiserreiches wurde die Hauptstadt Berlin Schauplatz einer atemberaubenden Stadtentwicklung. Die 1907 publizierte Ausgabe des „Figaro illustré“ von Charles Bonnefon und Moritz Coschell ist ein Porträt und Sittenbild der Hauptstadt des Deutschen Reiches aus französischer Sicht. Der erstmalig auf Deutsch erscheinende Text wird in der zweisprachigen Ausgabe dem französischen Original gegenübergestellt, um die dichte, ausdrucksstarke und gewählte Sprache Bonnefons zu würdigen.
Weiterführende Links
Mehr Bücher aus der Kategorie »Literaturwissenschaft«
Weitere Veröffentlichungen der wbg Publishing Services
Zum Autor
Stephan Heinrich Nolte, *1955, studierte in Göttingen, Freiburg und Paris Medizin und Kulturwissenschaften. Er publiziert zu kulturwissenschaftlichen, medizingeschichtlichen und ethischen Fragestellungen.