Die Chemie führt das ungemütlichste Dasein unter allen Naturwissenschaften. Während die Biologie vom Nimbus des Lebens profitiert und der Physiker schon durch den Hinweis auf das unergründliche Universum und die Relativitätstheorie sämtliche vorlaute Kritiker verstummen lässt, sitzt die Chemie in der Schmuddelecke. „Chemie ist das was knallt und stinkt,“ und das nicht nur im Schulunterricht, sondern auch im Alltag.
Täglich kann man in den Nachrichten hören, wo die „Chemie“ wieder die Umwelt verpestet: Chemie auf dem Acker, Chemie im Essen, Chemie in der Kleidung, Chemie in Kosmetikprodukten usw. Offensichtlich ist Chemie so gefährlich, dass man alles, was damit zu tun hat, streng regulieren bzw. sogar gleich verbieten sollte. Die allgemeine Tendenz in der Gesellschaft lautet: zurück oder hin zur chemiefreien Natur. Vielleicht ist einigen Zeitgenossen noch bewusst, dass die Synthesechemie mit ihren Produkten das hohe technische und zivilisatorische Niveau unsere Gesellschaft maßgeblich beeinflusst, diese Menschen gehören aber zu einer vernachlässigbaren Minderheit. Zaghaften Bemühungen von Chemiekundigen die Vorzüge von Chemie in Sachbüchern oder Artikeln zu popularisieren, scheitern regelmäßig: Der Begriff der Chemie und alles, was damit zusammenhängt, ist im öffentlichen Leben „verbrannt“.
Diese Situation lässt die ungeheuren Bildungslücken erahnen, die den öffentlichen Diskurs bestimmen. Allein die Tatsache, dass jeder Mensch aus ungefähr 100.000 chemischen Verbindungen besteht, die in ungefähr 1000 Reaktionen miteinander wechselwirken, müsste einen wahren Run auf diese Naturwissenschaft auslösen, besonders in einer Gesellschaft, in der der gesundheitsbewusste Mensch im Mittelpunkt steht. Die ganze uns umgebende Natur ist auf der Chemie aufgebaut. So unterschiedliche Fragen wie: Warum sind Menschen so kooperative Lebewesen, was ist die (materielle) Basis unseres Denken, welchen Einfluss hat das Kochen auf unsere Zivilisation, warum haben Vögel Federn, warum legen sie Eier, warum ist die lebende Natur hauptsächlich grün und nicht blau, warum hat Fischfleisch eine weiße Frage und warum sollten wir mehrfach ungesättigte Fettsäuren zu uns nehmen, kann man nur mit chemischem Basiswissen beantworten. Die Biologie setzt darauf auf; letztendlich ist sie nur eine Fußnote zur Chemie. Den Einwand, dass die Physik davor vielleicht noch entscheidender sein könnte, möchte ich hier wegwischen; die Physik, insbesondere die Atomphysik, ist viel zu speziell und zu weit entfernt vom Leben. Erst die Chemie wird konkret. Besonders die chemische Formelsprache, die direkt zu den Realitäten auf molekularem Niveau korreliert, ermöglicht es Eigenschaften und Zusammenhänge auf makroskopischer Ebene objektiv zu deuten. Es scheint, dass Lehrende an den Schulen und Universitäten eine gehörige Mitschuld an dem derzeitigen Aschenputtel-Dasein der Chemie tragen. Es wird in diesen Einrichtungen viel zu viel unterrichtet und dann auch noch ein Wissen, das weder im Alltag noch im Berufsleben zukünftiger Lehrer und Chemiker eine Rolle spielt.
Im Angesicht einer noch nie dagewesenen Wissensexplosion in den letzten Jahrzehnten, verbunden mit dem ungehinderten Zugang zu dem Wissen über das Internet, schwimmt der moderne Mensch allein und hilflos in einem unendlich erscheinenden Meer von Informationen. Immer mehr ist die Kompetenz gefragt, sich darin zurechtzufinden. Eine schonungslose Analyse ist erforderlich, um diese Situation zunächst zu beschreiben und, um im Anschluss daran, Bemühungen für eine völlig neue Chemie-Didaktik und –popularisierung abzuleiten. Zunächst gilt es zu zeigen, dass die Chemie auch die Basis für die Biochemie darstellt, was meist unter den Tisch fällt, wenn das Vertrauen erweckende Präfix „Bio“ ins Spiel kommt. Biogene chemische Verbindungen werden mit den gleichen Prinzipien beschrieben wie synthesechemisch hergestellte. Die Chemie und nicht nur die Biochemie gehört zu den Naturwissenschaften. Das Buch von der wbg „Chemie – Verbindungen fürs Leben“ soll einen Beitrag zum besseren Chemieverständnis leisten, indem es den roten Faden ausrollt, der alle Bereiche des Lebens, angefangen von der Biochemie über die verschiedensten Spielarten der Biologie, Medizin, Ernährungswissenschaften, ja auch Ökonomie, Theologie und Soziologie miteinander verbindet. Dieser rote Faden nimmt seinen Ausgang in der Chemie!
Armin Börner ist seit 2000 ordentlicher Professor für Organische Chemie an der Universität Rostock mit gleichzeitiger Tätigkeit als Abteilungsleiter am Leibniz-Institut für Katalyse. 2001 erhielt er den Descartes Preis.
„Chemie habe ich nie verstanden - aber jetzt!.“
Wagen Sie den Schritt in eine Welt, in der es einen Zusammenhang gibt zwischen Zucker und Entscheidungsfreudigkeit oder Höhlenzeichnungen und Formelsprache. Sehen Sie, wie die Chemie die Welt strukturiert und Chemiekenntnisse zu einem tieferen Verständnis unserer Lebenswelt beitragen können.
Vieles von dem was in diesem Buch steht haben Sie im Chemieunterricht gelernt - Sie haben es wahrscheinlich in einer Kurve Ihres Gehirns abgelegt und vergessen. Entweder, weil Sie meinen es nicht verstanden zu haben oder, weil Sie glauben, dass es keine Relevanz für Ihren Alltag hat. Das Gegenteil ist der Fall. Die Chemie ist der rote Faden, der alle Bereiche unseres Lebens verbindet.