Produktiv waren die deutsch-französischen Beziehungen immer dann, wenn die politischen Chefs gut miteinander konnten. Stimmte die Wellenlänge nicht, gab es Flaute, und auch die europäischen Dinge gerieten ins Stocken. Ab jetzt en avant mit Olaf Scholz? Die Erwartungen sind gemischt, zumal noch keineswegs feststeht, wie Scholz‘ Pendant im Élysée demnächst heißen wird.
Da ist es beruhigend, die Partnerschaft auf solidem Grund zu wissen. Die Nachkommen von Galliern und Teutonen haben gelernt, miteinander auszukommen. Hahnenkämpfe sind Vergangenheit. Die Regierungen stehen im Dauerkontakt. In den Grenzregionen wird gemeinsam geplant. Daß die erste Auslandsreise des neuen Bundeskanzlers nach Paris führte, war eine Selbstverständlichkeit. Und dennoch: Wer heute die Klangprobe macht, kommt an der Erkenntnis nicht vorbei, daß das deutsch-französische Duett schon mal besser spielte.
Gewohnheitsabrieb macht sich bemerkbar. Das Jugendwerk, einst eine überaus wirksame Beziehungsagentur, ist in die Jahre gekommen. Städtepartnerschaften leiden unter dem geriatrischen Gesetz. Der Deutschunterricht an den französischen Schulen ist auf dem absteigenden Ast. Umgekehrt gilt dasselbe. Insgesamt wirkt die deutsch-französische Partnerschaft wie eine alte Ehe. Sie funktioniert, aber die Glücksmomente sind rar geworden.
Mit der Freundschaft, auch der zwischen Völkern, verhält es sich wie mit der Freiheit, die Heinrich Heine einst eine Gefängnisblume nannte. Man ersehnt, was man entbehrt. Was man hat, verliert seinen Glanz. Der zu beobachtende Abgang ins Rituelle erfaßte die amitié franco-allemand in den Nullerjahren. Die Nachkriegsgeneration war jetzt an der Macht. Programmatisch erklärte der damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder, die Partnerschaft mit den Franzosen – wie auch das europäische Projekt – müsse sich „rechnen“. Die Distanzierung von seinen Amtsvorgängern Helmut Kohl und Helmut Schmidt war gewollt.
Daß Politik von Interessen geleitet wird, ist eine Binsenweisheit. Adenauer, Schumann, de Gasperi, Spaak oder de Gaulle waren keine Traumtänzer. Und doch hätten sie ihr Tun nie unter die simple Maxime von Soll und Haben gestellt. Die Schrecken des Krieges steckten ihnen noch in den Knochen. Europa war drauf und dran, sich für immer von der Weltbühne zu verabschieden. Wer das verhindern wollte, mußte mit der nationalegoistischen Politik der Vergangenheit brechen und aus der physischen und moralischen Trümmerlandschaft des Kontinents etwas Neues schaffen. Das Wissen darum verlieh der Nachkriegspolitik ein starkes Ethos.
Deutschland fiel der Bruch mit der Vergangenheit am leichtesten. Durch die Schuld am Krieg und an den jede Vorstellungskraft übersteigenden Verbrechen an den Juden besaßen die Deutschen nirgendwo Kredit. Das Land war geteilt. Der 1949 gegründete westdeutsche Teilstaat stand unter alliierter Kuratel. An der Überlebensfähigkeit des demokratischen Experiments Bundesrepublik bestanden erhebliche Zweifel. Auf diesem schwankendem Boden traf Konrad Adenauer, der erste Bundeskanzler, zwei Grundentscheidungen: Westbindung und Aussöhnung mit Frankreich.
Vor Adenauer standen Herkulesaufgaben. Er hatte es mit einer sperrigen Opposition zu tun. Die SPD suchte unter ihrem Vorsitzenden Kurt Schumacher das Heil in einem Schaukelkurs zwischen Ost und West. Hätte sie sich durchgesetzt, wäre Deutschlands „langer Weg nach Westen“ (Heinrich August Winkler) vielleicht bis heute nicht an sein Ziel gelangt. Und die Versöhnung mit Frankreich: Sie wirkt in der Rückschau wie ein Wunder. Schließlich galt es, eine eingemeißelte Feindschaft zu überwinden. Der Mythos der „Erbfeindschaft“ war in Deutschland am Anfang des 19. Jahrhunderts entstanden, als der aufkommende Nationalismus nach dem Einheitsstaat verlangte. Frankreich hatte in dem Vierteljahrhundert der Revolutionskriege gezeigt, wozu die nation une et indivisible imstande war. Stark wie Frankreich zu werden, glaubte man nur in der Konfrontation mit den Nachbarn erreichen zu können. Intellektuelle definierten Deutsche und Franzosen als wesenhaft voneinander unterschieden. Ernst Moritz Arndt erklärte den Haß auf die Nachbarn zum Amalgam der Nationbildung. Im Haß würden die Deutschen einen „Vereinigungspunkt“ finden, der die divergierenden Kräfte im eigenen Land zusammenbinde. Im Befreiungskrieg gegen Napoleon predigte Ernst Moritz Arndt: „Ich will den Haß gegen die Franzosen, nicht bloß für diesen Krieg, ich will ihn für immer. Dann werden Deutschlands Grenzen auch ohne künstliche Wehren sicher sein, denn das Volk wird immer einen Vereinigungspunkt haben, sobald die unruhigen und räuberischen Nachbarn überlaufen wollen. Dieser Haß glühe als die Religion des deutschen Volkes, als ein heiliger Wahn in allen Herzen und erhalte uns immer in unsrer Treue, Redlichkeit und Tapferkeit.“ In Frankreich, wo man die Deutschen lange als gedankenvoll, aber tatenarm abgetan und in Deutschland ob seiner Schwäche keinen Rivalen gesehen hatte, erwachte der Nationalhaß erst mit dem Krieg von 1870/71 und dem Verlust von Elsaß-Lothringen. Von nun an war die „Erbfeindschaft“ symmetrisch. Die folgenden Katastrophen bildeten die sich selbst erfüllende Prophezeiung eines Mythos, der die Gegnerschaft der beiden großen Staaten im Zentrum Europas als naturgegeben und unauflöslich hingestellt hatte.
Adenauer hatte das Glück, in dem französischen Außenminister Robert Schuman einen verwandten Geist zu finden. Beide erkannten, daß der Ausgleich zwischen Deutschland und Frankreich nur über den Weg eines vereinten Europa gelingen würde. Europäische Institutionen bildeten aus französischer Sicht das beste Mittel, das unruhige Deutschland einzugehen, aus deutscher Sicht die Möglichkeit, das Vertrauen der Nachbarn zu gewinnen. Der 9. Mai 1950 wurde zu einer Sternstunde der Nachkriegsgeschichte. An diesem Tag trat in Bonn das Kabinett zu einer Beratung zusammen. „Ich wußte am Morgen nicht, daß der Tag eine bedeutsame Wendung in der europäischen Entwicklung bringen würde“, schrieb Adenauer in seinen Erinnerungen. In die laufende Kabinettssitzung platzte die Nachricht, daß ein französischer Kurier mit zwei Briefen Schumans nach Bonn gekommen sei. Eine unverzügliche Antwort sei erforderlich. Es handelte sich um ein private, handschriftliches und um ein offizielles Schreiben. Das zweite erhielt ein Dokument, das später unter dem Namen Schuman-Plan bekannt wurde. In dem Dokument schlug der französische Außenminister vor, die gesamte Montanindustrie Deutschlands und Frankreichs in einer Behörde zusammenzufassen, die auch anderen Staaten zum Beitritt offenstehen sollte. Die entscheidende Passage lautete: „Europa läßt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung. Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen. Die Vereinigung der europäischen Nationen erfordert, daß der Jahrhunderte alte Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland ausgelöscht wird.“ Adenauer war begeistert. Postwendend ließ er Schuman mitteilen, daß er dem Vorschlag aus vollem Herzen zustimme. Die Transformation der deutsch-französischen Feindschaft in Freundschaft, organisiert durch die Vereinigten Staaten von Europa: Das war die Idee. Sie mündete 1952 in die Gründung der Montanunion, der in den folgenden Jahren weitere Institutionen folgten.
Als Charles de Gaulle 1959 Präsident der von ihm gegründeten Fünften Republik wurde, wurde in Bonn keineswegs der Sekt entkorkt. Einerseits hoffte man, das neue Regime werde in Paris für mehr Stabilität sorgen. Andererseits war de Gaulles Eigenwilligkeit bekannt. Bekannt war auch sein Mißtrauen gegenüber den USA und gegenüber England, das er für den Einflußagenten Washingtons in Europa hielt. Adenauer hingegen mußte Spannungen mit den Amerikanern, die für die Sicherheit der Bundesrepublik unverzichtbar waren, unbedingt vermeiden. Der Zwiespalt zog sich über die Jahre hin und stellten Adenauers equilibristische Fähigkeiten wiederholt auf die Probe. Indessen entstand zwischen beiden älteren Herren ein Vertrauensverhältnis, das sachliche Differenzen letztlich doch überbrückte. In seinen Memoiren hob de Gaulle die Dichte der persönlichen Beziehung zu seinem „hohen Freund“ Adenauer hervor: 40 Briefe, 15 Treffen, über 100 Stunden Gespräche. Gewinn der Zweisamkeit war der Élysée-Vertrag von 1963. Deutschland war jetzt Frankreichs wichtigster Partner, umgekehrt galt dasselbe.
Ein Jahr vorher hatte Adenauer auf Einladung de Gaulles Frankreich besucht. Reims, die alte Krönungsstadt der Könige Frankreichs, war nicht zufällig für den Abschluß der Visite (7. Juli 1962) ausgewählt worden. Im Krieg von 1870/71 war Reims von deutschen Truppen besetzt gewesen. Im Ersten Weltkrieg stand die Stadt von Anfang bis Ende im Feuer. Die gotische Kathedrale wurde im September 1914 von deutscher Artillerie beschossen. Während der Marneschlacht leisteten die Festungen von Reims erbitterten Widerstand und halfen mit, dass der deutsche Vormarsch auf Paris durch das „Wunder an der Marne“ abrupt zum Stehen kam. 1918 war Reims zu 80 Prozent zerstört. Nach vier Jahren Krieg zählte die ville martyre von ursprünglich 100 000 nur noch 8000 Einwohner. Und noch einmal trug sich die Stadt in das Buch der Nachbarschaftsgeschichte ein: Am 7. Mai 1945, um 2.39 Uhr, unterzeichnete Generaloberst Jodl, der Chef des Wehrmachtführungsstabes, in Reims die bedingungslose Kapitulation Nazideutschlands. Der Akt erfolgte im Hauptquartier der Westalliierten Streitkräfte SHAEF, dort, wo heute im „Lycée Polyvalent Franklin Roosevelt“ Schüler aufs Leben vorbereitet werden.
Eingedenk dieses schwierigen Hintergrunds wurde der Tag von Reims mit großer Spannung erwartet. Das Programm begann zu früher Stunde mit einer Autofahrt. In einer mit beiden Staatsflaggen geschmückten Limousine durchquerten der französische Staatspräsident und der deutsche Bundeskanzler, der eine in grauer Felduniform, der andere im schwarzen Anzug, die Schlachtfelder der Champagne, vorbei an endlos langen Reihen von Soldatengräbern. Ziel war der Truppenübungsplatz Mourmelon. Eine Militärkapelle blies den Marche consulaire, eine getragene Weise, die an die Schlacht von Marengo (1800) erinnert und die während der Konsulatszeit Napoleons anstelle der Marseillaise als Hymne gespielt wurde. Anschließend nahmen de Gaulle und Adenauer eine französisch-deutsche Truppenparade ab. Das Finale des Tages bildete ein Pontifikalamt in der Kathedrale von Reims. Fotos zeigen de Gaulle und Adenauer auf einem Podest vor dem Hauptaltar in tiefes Nachdenken versunken. Die Symbolik des Ortes und des Augenblicks erschloss sich auch den Menschen draußen, die das Ereignis im Fernsehen oder am Radio verfolgten oder die Berichte in den Zeitungen lasen: Die Repräsentanten zweier lange im Hass aufeinander verbundenen Völker Seite an Seite; die gotische Kathedrale, monumentaler Mittelpunkt der noch immer von Kriegsschäden gezeichneten „Märtyrerstadt“; die heilige Handlung und die brausenden Orgelklänge – es war schwer, davon unberührt zu bleiben. „Nie vorher und danach in der Geschichte der Bundesrepublik“, schreibt der Adenauer-Biograf Hans-Peter Schwarz, „ist die Kraft geschichtlicher Erinnerungen und Bilder so souverän eingesetzt worden, um die Öffentlichkeit für eine außenpolitische Grundorientierung zu gewinnen.“ Die Grundorientierung bestand in einem Paradigmenwechsel: von Konfrontation zu Kooperation, von der Erbfeindschaft zur Zukunftspartnerschaft. Es war vor allem der 86-jährige Adenauer, der den Blick nach vorn richtete. In seiner Tischrede in der Präfektur von Reims erklärte er, nachdem er der vielen Millionen Kriegstoten gedacht hatte: „Wenn unsere beiden Völker, das französische und das deutsche Volk, nicht zusammenarbeiten, wenn sie nicht zusammenarbeiten in enger Gemeinschaft, in vollem Vertrauen zueinander, in Verbundenheit und Freundschaft, wird es keinen Frieden geben, weder für Frankreich und für Deutschland, noch für Europa, noch für die Welt.“
Der Gegenbesuch de Gaulles in der Bundesrepublik verlief nicht weniger spektakulär. Eingeprägt hat sich vor allem die Rede des französischen Staatspräsidenten in Ludwigsburg (.
9. September 1962). Der Schock des Mauerbaus in Berlin lag damals gerade ein Jahr zurück. Die Westdeutschen waren dankbar für jedes Zeichen der Verbundenheit. Vor dem barocken Schloss warteten an die 20 000 Menschen, die meisten junge Leute. An sie wandte sich de Gaulle in verblüffender Direktheit.
„Sie alle beglückwünsche ich!“, begann er. „Ich beglückwünsche Sie zunächst, jung zu sein“. Dann weiter: „Ich beglückwünsche Sie ferner, junge Deutsche zu sein, das heißt Kinder eines großen Volkes. Jawohl! Eines großen Volkes! Das manchmal im Laufe seiner Geschichte große Fehler begangen hat. Ein Volk, das aber auch der Welt fruchtbare geistige wissenschaftliche, künstlerische und philosophische Werke beschert hat, das die Welt um unzählige Erzeugnisse seiner Erfindungskraft, seiner Technik und seiner Arbeit bereichert hat, ein Volk, das in seinem friedlichen Werk, wie auch in den Leiden des Krieges, wahre Schätze an Mut, Disziplin und Organisation entfaltet hat. Das französische Volk weiß das voll zu würdigen, weil es auch weiß, was es heißt, schaffensfreudig zu sein, zu geben und zu leiden.“ Bild- und Tonaufnahmen lassen das Meisterhafte der Rede wenigstens halbwegs erfassen. Die hohe Gestalt des Generals unter dem Balkon des Neuen Hauptbaus, die bewegte Gesichts-Landschaft des Redners, der immer wieder wie zu einer Umarmung ausholende rechte Arm, die ungewohnte Akzentuierung, die gelegentliche Suche nach dem richtigen Wort (de Gaulle sprach frei) – das alles wirkte außerordentlich authentisch und französisch und verlieh der unerhörten Aussage den gebührenden Rahmen. Der fraglos mit Bedacht formulierte Schlüsselsatz ging unter die Haut. Als Angehörige eines „großen Volkes“ angesprochen zu werden, musste den um Selbstachtung ringenden jungen Deutschen wie eine Lossprechung vorkommen. Eine Geste, deren Großherzigkeit noch dadurch gesteigert wurde, dass man selbst ja nichts zu vergeben hatte. Sozialpsychologisch stand die Ludwigsburg-Rede auf einer Stufe mit dem Gewinn der Fußball-WM 1954. In Bern war die Mannschaft um Fritz Walter der Held, in Ludwigsburg war der Held de Gaulle, der oberste Repräsentant des ehemaligen Erbfeindes.
Nach Adenauers Abschied vom Amt verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Paris und Bonn zunehmend, was hauptsächlich mit Großbritannien zu tun hatte. Ludwig Erhardt war ein dezidierter „Atlantiker“ und befürwortete den Eintritt der Engländer in die EWG, den de Gaulle durch sein Veto durchkreuzte. Willy Brandt und Georges Pompidou, der de Gaulle 1969 als Staatspräsident abgelöst hatte, fanden nie einen gemeinsamen Draht. Die Klage eines Dolmetschers, er habe noch nie so viel Schweigen übersetzen müssen, war durchaus glaubhaft. Für Brandt war die Kontaktpflege mit Paris eine Nebensache. Den ersten Rang in seiner Agenda nahm die Ostpolitik ein, die im Élysée mit Mißtrauen verfolgt wurde.
In Schwung kam das couple fanco-allemand, das deutsch-französische Paar, erst wieder unter dem Kanzler Helmut Schmidt und dem französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing. Giscard hatte seine Wurzeln in der Auvergne; zur Welt gekommen war er 1926 in Koblenz, wo sein Vater damals als Beamter der französischen Besatzungsarmee sein Geld verdiente. Mit achtzehn Jahren schloss sich Giscard der Résistance an. Nach der Befreiung von Paris meldete er sich freiwillig zu den Forces françaises libres. In der 1. Armee unter de Lattre de Tassigny kämpfte er im Südschwarzwald. Als die Franzosen Ende April 1945 in Konstanz einrückten, saß Giscard im ersten Panzer. Auch der acht Jahre ältere Schmidt war Kriegsteilnehmer. Als Offizier kämpfte er eine Zeit lang an der Ostfront. Genauso wie Giscard ging er nach dem Krieg früh in die Politik, er als Sozialdemorat, der Franzose als Liberaler. Als Schmidt unter Willy Brandt in Bonn das Finanzministerium führte, war sein Ressortkollege in Paris Giscard d’Estaing.
Die wesentliche Leistung der Ära Schmidt-Giscard bestand in der Schaffung des 1979 eingeführten Europäischen Währungssystems. Das EWS schrieb für die EWG-Mitgliedsstaaten (bis auf Großbritannien, das inzwischen aufgenommen worden war) einen festen Wechselkurs vor. Verrechnungseinheit war der ECU. Noch hatten die europäischen Bürger kein gemeinsames Geld in der Tasche, aber die Richtung war eingeschlagen. Motor der Entwicklung waren Schmidt und Giscard. Erstmals seit Adenauer und de Gaulle konnte man wieder von einem deutsch-französischen Tandem sprechen. Viele Initiativen entstanden bei informellen Gesprächen. Der Franzose sprach fließend deutsch, was die Kommunikation erleichterte. Die Weichen zum Währungsverbund sollen eines Abends in Schmidts Kellerbar in Hamburg-Langenhorn gestellt worden sein. Obwohl in unterschiedlichen politischen Lagern zu Hause, zogen Schmidt und Giscard in Kernfragen an einem Strang. Als Giscard sich im Mai 1981 um ein zweites Mandat bewarb und dem Sozialisten Mitterand unterlag, war Schmidt bei den trauernden Hinterbliebenen.
Ob Kohl und Mitterand zueinanderfinden würden, war sehr die Frage. Schmidt verlor seinen Posten im Herbst 1982 an den CDU-Vorsitzenden, nachdem ihm der Koalitionspartner FDP abhandengekommen war und die eigene Partei ihn im Nachrüstungsstreit allein ließ. Mitterand hatte in seinem ersten Amtsjahr einen linken Schnellstart hingelegt, vierzig Banken und Schlüsselindustrien verstaatlicht. In der Assemblée koalierten seine Sozialisten mit der KPF, den Kommunisten. Er hatte also alles getan, um für Kohl und seine konservative Anhängerschaft als Schreckgespenst dazustehen, während die SPD-Linke ihn als Messias feierte. Indessen wiederholte sich eine Erfahrung der Schmidt-Giscard-Zeit: Die deutsch-französischen Dinge sortierten sich zuallerletzt nach parteipolitischen Mustern. In Paris machte man sich Sorgen über das Anwachsen der deutschen Friedensbewegung. Wie konnte man das sowjetische Mittelstreckenarsenal gleichmütig hinnehmen, aber die Stationierung ähnlicher Waffen durch den Bündnispartner USA verteufeln? Mitterand sah in dieser Widersprüchlichkeit einen Rückfall in die alte deutsche Unberechenbarkeit (incertitude allemande), die man für überwunden gehalten hatte. Eingeladen, im Bundestag zu sprechen, griff Mitterand in diplomatisch höchst ungewöhnlicher Weise in die innerdeutsche Kontroverse ein. Ausdrücklich lobte er Kohls Position in der Nachrüstungsfrage und stärkte der schwarz-gelben Koalition den Rücken für die Wahl im März 1983, die Kohl überzeugend gewann.
Eineinhalb Jahre später, am 22. September 1984, trafen sich der französische Präsident und der deutsche Kanzler in Verdun. Anlass war das Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor siebzig Jahren. Während des Hubschrauberflugs nach Verdun erzählte Kohl, dass sein Vater am berüchtigten Homme-Mort gekämpft habe; Mitterand zeigte dem Gast die Stelle, wo er selbst, 1940, verwundet worden war. Dann, vor dem Beinhaus von Douaumont, die Szene, die ikonisch wurde wie das Patriarchen-Bild aus der Kathedrale von Reims: Die Nationalhymnen erklangen. Wie erstarrt standen Mitterand und Kohl nebeneinander, getrennt durch den Protokollabstand von gut einem Meter. Da streckte Mitterand auf einmal die Hand aus, Kohl ergriff sie sofort. Das anschließende Bulletin übertrug das emphatische Niveau des Händedrucks in Worte: „Europa ist unsere gemeinsame Heimat. … Deshalb haben wir – Deutsche und Franzosen – vor nahezu 40 Jahren den brudermörderischen Kämpfen ein Ende gesetzt und den Blick auf eine gemeinsame Zukunft gerichtet. Wir haben uns versöhnt. Wir haben uns verständigt. Wir sind Freunde geworden.“
Verdun war eine Manifestation. Sie bestätigte, was grenzüberschreitend in den drei vorausgegangenen Jahrzehnten gewachsen war. Aber der Härtetest stand noch aus. Er kam 1989. Den Mauerfall hatte niemand vorhergesehen, auch Helmut Kohl nicht. Jedoch hatte er sich anders als ein Großteil der westdeutschen Elite gegenüber den DDR-Machthabern nie verbogen. Als unversehens die Chance zur Wiedervereinigung auftauchte, konnte er sie energisch nutzen. Kohls Werdegang war vergleichsweise geradlinig. Als Jungpolitiker mischte er das Establishment der CDU ordentlich auf. Zu Amt und Würden gelangt blieb er ein aufgeklärter Konservativer mit Bodenhaftung und beachtlicher Resistenz gegen Zeitgeistmoden. Im übersichtlichen Grundriss seines Denkgebäudes bildeten neben einem ausgeprägten Antikommunismus Frankreich und Europa die Stützpfeiler. Ein enges Verhältnis zum Nachbarland war dem Pfälzer wichtig. 1948 hatte er zu einer Gruppe junger Leute gehört, die bei Weißenburg (Wissembourg) pathetisch Grenzpfähle ausrissen und ein freies Europa forderten.
Weitaus kurvenreicher verlief Mitterands politische Vita. Intellektuell neugierig und ideologisch biegsam, mochte es eher ein Zufall sein, dass der ehemalige Messdiener schließlich den Anker im sozialistischen Hafen auswarf. Gern verrätselte die „Sphinx“ Mitterand bestimmte Lebensabschnitte. Erst spät kam zutage, dass er nach seiner Flucht aus der Kriegsgefangenschaft eine Weile enge Kontakte zu Persönlichkeiten aus dem Umfeld Vichys gepflegt hatte. Bis 1991 schickte er jährlich Kranzgebinde ans Grab Pétains, die späte staatsamtliche Distanzierung vom Kollaborationsregime überließ er seinem Nachfolger Chirac. Was Deutschland betraf: Als gebildeter Franzose kannte er die Klassiker der Literatur, seine Vorliebe für Ernst Jünger blieb erklärungsbedürftig. Die Zweiteilung Deutschlands hielt er wie de Gaulle für widernatürlich, aber praktisch. Dem trockenen Bekenntnis François Mauriacs: „Ich liebe Deutschland, ich liebe es so sehr, daß ich sehr zufrieden bin, daß es zwei davon gibt“ hätte er wohl kaum widersprochen.
Die rapide Transformation 1989 wurde von den meisten Franzosen mit lebhafter Zustimmung begleitet, dagegen überwogen in der Elite Zurückhaltung und Ablehnung – ein soziografisches Abbild der Bundesrepublik, wo namhafte Exponenten von Politik und Gesellschaft es nicht über sich brachten, die Selbstbefreiung der Ostdeutschen anders als mit „gestopften Trompeten“ zu begrüßen (so der Historiker Hans Peter Schwarz). Mitterand versuchte anfangs, die Entwicklung zu bremsen. Dass Gorbatschow die DDR aufgeben werde, hielt er für ausgeschlossen. Zwischen Paris und Bonn kriselte es wie selten. Mitterand wurde von Kohls „Zehn-Punkte-Programm“ überfahren. Später verstand er die zögerliche Haltung des Kanzlers in der Oder-Neiße-Frage nicht. Umgekehrt irritierte in Bonn, dass der Präsident Ende Dezember nach Ostberlin reiste, zu einem Zeitpunkt, als sich das dortige Regime bereits in voller Auflösung befand. Schließlich lenkte Mitterand taktisch ein. Wenn er den Zug schon nicht aufhalten konnte, wollte er wenigstens die Fahrtrichtung mitbestimmen.
Die Richtung war – Europa. Im Februar 1992 wurde der Vertrag von Maastricht geschlossen. Im Zentrum stand die bindende Vereinbarung, eine europäische Gemeinschaftswährung einzuführen. Von deutschen Kritikern wurde alsbald der Vorwurf erhoben, Mitterand habe Kohl erpresst, und der Verzicht auf die D-Mark sei der Preis gewesen, den Mitterand für die Zustimmung zur Wiedervereinigung verlangt habe. Die Behauptung, die seither nie ganz verstummte, hält den Fakten nicht stand. Für einen Kuhhandel dieser Art fehlten die Voraussetzungen, da es weder in Mitterands Hand lag, die deutsche Einheit aufzuhalten, noch Kohl die Einführung des Euro abgetrotzt werden musste. Natürlich wussten Kohl und sein Finanzminister Theo Waigel, dass es der deutschen Bevölkerung schwerfallen würde, sich von der geliebten D-Mark zu trennen. Aber der logische Fortschritt des Europaprojekts war ihnen dieses Risiko wert.
Hauptnutznießer des Europaprojekts waren die Deutschen schon in den fünfziger Jahrzehnt gewesen. Ohne die Übertragung von Souveränitätsrechten wäre die Bundesrepublik nicht souverän geworden. Ohne Europa wäre die Freundschaft mit Frankreich nicht gelungen. Nun bewährte sich Europa auch in der Wendezeit. Die Wiedervereinigung war für die Partnerstaaten, Frankreich voran, ja durchaus keine romantische Angelegenheit. Sie drohte, die Machtbalance auf dem Kontinent auszuhebeln. Die Bundesrepublik würde durch den Zugewinn von 16 Millionen Menschen noch stärker werden, Deutschland würde weiter nach Osten rücken. Das waren Sorgen, die man in der Bundeshauptstadt ernst nehmen musste. Durch den Integrationsfortschritt von Maastricht konnte ihnen die Spitze genommen werden.
Das Verhältnis Kohl-Mitterand lässt sich nicht auf den Händedruck von Verdun reduzieren. Es kannte Verstimmungen, aber es bewährte sich in Krisen. Kurz vor seinem Tod diktierte Mitterand dem Publizisten Franz-Olivier Giesbert in den Block, Kohl sei ihm „ein Freund, und er ist einer der wichtigsten Männer dieses Jahrhunderts“. Derselbe Kohl saß beim Requiem für den toten Staatspräsidenten in Notre Dame weinend in der Bank. Am 8. Mai 1995, dem 50. Jahrestag des Kriegsendes, war Mitterand ein letztes Mal in Deutschland öffentlich aufgetreten. Bei einer Rede im Berliner Schauspielhaus blickte er tief in die deutsch-französische Vergangenheit zurück: „Ein eigenartiges, grausames, schönes und großes Abenteuer ist die Geschichte dieser Brudervölker, die mehr als ein Jahrtausend brauchten … um sich anzunehmen, um sich zu vereinen.“
Mitterand amtierte 14 Jahre als Präsident der französischen Republik, Kohl 16 Jahre als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Unter den Nachfolgern Jacques Chirac und Gerhard Schröder ging die Pflege der ererbten Freundschaft in den Verwaltungsmodus über. Dann, 2005, kam mit Angela Merkel eine Ostdeutsche ins Kanzleramt, ohne biographische und emotionale Bezüge zum Nachbarn im Westen. Viele sahen in Merkel eine Figur des Übergangs, täuschten sich aber in dieser Annahme. Mit Nicolas Sarkozy arbeitete sie bei der Bewältigung der Finanzkrise eng zusammen, allerdings ohne daß das Duo „Merkozy“ den deutsch-französischen „Motor“, der unter Chirac und Schröder ins Stocken geraten war, wieder auf Touren brachte. Zu unterschiedlich waren die Temperamente – hier der quecksilbrige Sarkozy, dort die distanzierte Merkel. Auch unter Sarkozys Nachfolger, dem unglücklichen Francois Hollande, lief zwischen Berlin und Paris nicht viel zusammen.
Die Vorzeichen änderten sich mit dem Amtsantritt von Emmanuel Macron 2017. Macron hatte sich im Wahlkampf gegen die Rechtsauslegerin Marine Le Pen durchgesetzt, und zwar mit einer entschieden pro-europäische Kampagne. In der Folge ließ es Macron an Denkanstößen nicht fehlen. Gleich im ersten Amtsjahr warb er in einer programmatische Rede an der Sorbonne für ein souveränes Europa. In Berlin nahm man den Ball nicht auf und antwortete mit höflichen Unverbindlichkeiten. Dabei blieb es. Die deutsche Kanzlerin erfreute sich in Frankreich eines hohen Ansehens. Auf dem Brüsseler Parkett war sie eine hoch geschätzte Moderatorin. Als Impulsgeberin in europäischen Dingen fiel ihre Regierung dagegen aus.
Es ist noch zu früh vorherzusagen, ob das neue Paar Scholz/Macron das Zeug zu einem echtem Tandem hat. Zunächst muß Macron wiedergewählt werden. In Frankreich ist die Euroskepsis in den letzten Jahren nicht geringer geworden. Die beiden Wettbewerber auf der rechtsextremen Seite, Marine Le Pen und Eric Zenmour, bringen es in Meinungsumfragen addiert auf rund 30 Prozent. Bemerkenswert ist, daß die Linkspartei La France insoumise die unter ihrem Anführer Jean-Luc Mélenchon ebenfalls mit antieuropäischen (und antideutschen) Affekten buhlt. Macron gilt für den ersten Wahlgang der Präsidentenwahl (10. April) zwar als Favorit, aber der Erfolg ist keineswegs garantiert. Ginge die Wahl schief, wären die Folgen für Europa und auch für die amitié franco-allemand schwerwiegend.
Fragezeichen stehen auch über der deutschen Seite. Olaf Scholz hat sich bisher als Europapolitiker noch nicht hervorgetan. Als Bundesfinanzminister war er in Paris gut angeschrieben. Staatliche Industriepolitik und lockerer Umgang mit Schulden haben in Frankreich Tradition. Von dem Sozialdemokraten im Kanzleramt erwartet man in dieser Hinsicht mehr Nachgiebigkeit als von den früheren unionsgeführten Regierungen. Ernste Probleme zeichnen sich auf einem anderen Feld ab. Das „Europa der Souveränität“ nimmt in Macrons politischer Glaubenslehre einen zentralen Platz ein. Dahinter steht mehr als die deprimierende Erfahrung mit dem amerikanischen Chaos-Präsidenten Donald Trump. Auch Trumps Nachfolger Joe Biden hat den Blick auf Asien gerichtet, auch für ihn steht die Rivalität mit China obenan. Nach Macrons Auffassung heißt das: Europa muß langfristig zum Selbstversorger werden, auch in Belangen der Sicherheit. Diese Haltung rührt an deutsche Tabus. Deutschland versteht sich als softpower. Das war schon unter Merkel so. Wenn schon leadership in Europa, dann durch klima- und flüchtlingspolitische Fleißkärtchen. Ging es um Bedürfnisse des Verteidigungshaushalts, um Waffen oder die „Sprache der Macht“, die Europa nach Ansicht des Außenbeauftragten Joseph Borrell neu lernen muß, schaltete Berlin regelmäßig auf stumm oder verwies auf angebliche Lektionen aus der eigenen, sehr speziellen Vergangenheit. Diese Haltung irritierte in Frankreich umso mehr, als sie oft von einem hohen moralischen Ton unterlegt war.
Die neue Ampel-Regierung mit der starken Stellung der Grünen dürfte sich an die gesinnungsethische softpower-Position klammern, was, wie die Ukraine-Krise lehrt, leicht ins Abseits führen kann. Scholz wird hart daran arbeiten müssen zu beweisen, daß sich für ihn und seine Koalition der europäische Dringlichkeitskatalog nicht in der CO 2-Reduzierung und dem Schutz bedrohter Tierarten erschöpft und daß das Gebot der Nachhaltigkeit auch für die Sicherheitspolitik gilt. Gelingt ihm das nicht, wird der deutsch-französische Motor nicht wieder anspringen.
Günter Müchler ist passionierter Frankreichkenner und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Französischen Revolution und Napoleon. Er studierte Geschichte und Politikwissenschaft und wechselte nach Stationen bei verschiedenen Zeitungen 1987 zum Rundfunk. Bis 2011 war er Programmdirektor von Deutschlandfunk, Deutschlandradio Kultur und DRadio Wissen. Mit einer fulminanten Biographie legt er nun (Frühjahr 2019) die Synthese seiner langjährigen Beschäftigung mit dem großen Korsen vor.